flying dolphins

 

Anneke Poenski / Atelier / Webpoeten*innen / Ariel und die Vögel / Menschen und Strassen

 

Webpoeten*innen

Ariel und die Vögel

Ein Nachtfalter fliegt durch das geöffnete Fenster und lässt sich knisternd auf dem silbernen Deckenfluter nieder. Ariel bemerkt ihn, reagiert aber nicht. Es ist nicht wichtig. So vieles hat in letzter Zeit an Wichtigkeit verloren, für den Achtzehnjährigen.
Sein Interesse gilt den merkwürdigen Vögeln, die sich seit Tagen in den Baumhöhlen vor seinem Fenster sammeln. Sie sehen aus wie Eulen, nur viel kleiner. Anfangs war es nur eine. Sie schien sich eine Art Nest zu bauen und verschwand wieder. Am Tag darauf kam sie wieder und brachte eine zweite mit.
Von da an konnte Ariel am Fenster sitzen bleiben und zu schauen, wie sie sich vermehrten. Dabei veranstalteten sie einen ziemlichen Krach. Kein Gesang, aber unterschiedlichste Rufe. Tagsüber nahm er keine große Regung in der Baumgruppe wahr. Doch wenn die Dämmerung einsetzte, so wie jetzt, begannen sie ihre Unterhaltung. KiKi. Kiutt. Ri. KuuKuu. Mit ansteigender Lautstärke. Ariel hat das Gefühl, dass nicht nur er die Eulen beobachtet, sondern viel mehr sie ihn. Auch hat er den Eindruck, sie reden über ihn. Was natürlich völlig widersinnig ist.
Als er das Fenster schließen will, löst sich einer der Vögel aus den Bäumen und kommt mit wenigen Flügelschlägen auf ihn zu geflogen. Auf dem Fensterbrett lässt er sich nieder und schaut Ariel aus gelben, hübschen Augen an. Sein Gefieder schimmert in unterschiedlichen Brauntönen. Der Junge weicht, nach dem ersten Schreck, nicht zurück. Eine kleine Eule, vielleicht zwanzig Zentimeter groß. Nicht gerade angsteinflößend. Er könnte seine Hand ausstrecken und sie berühren, ihr dichtes Gefieder streicheln. Da fällt ihm die Ruhe im Hintergrund, bei den Bäumen auf. Die anderen Vögel haben ihre Gespräche eingestellt. Die Eule zwinkert. Einmal, zweimal.
„Du bist ein komischer Kauz."
„Kiutt."
Sie erhebt sich vom Fensterbrett, fliegt eine Runde und kehrt zurück. Erneut zwinkert sie. Ariel nickt. Er wird ihr folgen. Oder dem ganzen Schwarm.
Er läuft in die Küche, packt ein wenig Obst und eine Trinkflasche in einen Rucksack. Aus dem Besenschrank greift er eine Taschenlampe, überprüft ihre Leuchtkraft und hinterlässt seiner Mutter eine kurze Nachricht.

Bin auf dem Weg. Folge den Eulen.
Ehe er die Wohnung verlässt fällt sein Blick auf einen Kalender seltener Vogelarten, der im Flur hängt. Seine Mutter ist ganz fasziniert von Vogelarten, deren Population sich in den letzten Jahren verringert hat. Er entdeckt seine Eule. Steinkauz, steht neben dem Bild. Ariel muss lächeln.
Das kann kein Zufall sein.

Dann verlässt er die Wohnung.
Bald hat Ariel die Stadt verlassen. Seine Wohnung liegt eh schon am äußersten Rand. Vorbei an einigen Wohnhäusern und einem verlassenen Hof, folgt er den Vögeln querfeldein. Sie fliegen nicht in Formation, wie er es von Zugvögeln gehört und gesehen hat. Es ist eher ein wildes Durcheinander mit wechselnder Führungsarbeit. Auch wirkt ihr Flugstil nicht erhaben und elegant, wie bei anderen Vögeln. Steinkauze scheinen nicht zum Fliegen geboren.
Das Gras ist trocken. Es hat seit Tagen nicht geregnet. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Nur Ariel, die Vögel am Himmel und die Natur. Das ist Ariel ganz recht.
Nach den Abiturprüfungen hat er sich von seinen Mitschülern abgekapselt. Immer weiter in sich selbst zurückgezogen. Nicht, dass er keine Freunde gehabt hätte, die ihm wichtig waren. Und da war auch noch Maya. Seit zwei Jahren hatten sie beinahe jede freie Minute miteinander verbracht. Aber die Veränderungen, die in ihm vorgingen, wollte er niemandem zumuten. Erklären konnte er sie nicht, nicht mal Maya. Er verstand es ja selber nicht. Maya fehlt ihm.
Das immer wiederkehrende stechen in der Brust, dass ihm Angst machte, wäre nicht das Problem gewesen. Auch über das immer wieder einschlafende rechte Bein, hätte er reden können. Aber für die geistigen Aussetzer und die aus dem Nichts auftauchenden Bilder – oder waren es Visionen – gab es keine Erklärungen. In jedem Fall gab es Minuten, in denen er vollkommen abwesend war. Mitten im Gespräch mit anderen, verschwand er plötzlich. Nach einiger Zeit tauchte er wieder auf und wunderte sich über die Wendung die ein Gespräch genommen hatte, oder die Blicke der anderen. Verstohlen. Verständnislos.
Über das Auftauchen der Kauze wunderte er sich nicht. Vielleicht hatten sie die Aufgabe, Menschen ins Leben zurückzuführen. Über Kontakt zu Tieren soll der Umgang mit und der Kontakt zu anderen Menschen geübt und verbessert werden. Das hatte er mal irgendwo gelesen.
Dunkel ist es geworden. Vereinzelt zeichnen sich Bäume düster vom Schwarz der Umgebung ab. Die Schar der Kauze hat ihren Flug verlangsamt, so dass er ihnen mühelos folgen kann. Ab und an schallt einer ihrer Rufe durch die Nacht. Als akustisches Signal für seine Orientierung.
Ariel lässt sich ins Gras fallen. Seinen Rucksack unter den Kopf geschoben, liegt er auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt. Gerade rechtzeitig, um einem körperlichen Schwächeanfall zuvor zu kommen. Das kommt hinzu, zu all seinen unerklärlichen gesundheitlichen Problemen. Diese plötzliche Ermattung.
Hier leuchten die Sterne hell und klar, anders als in der Stadt, wo sie hin und wieder nur zu erahnen sind.
Er schließt die Augen. Kurz darauf spürt er, wie die Schar der Vögel sich um ihn herum gruppiert. Sie lassen ihn nicht allein. Als wären sie eine Art Geleit. Nur für ihn.
Ariel verliert sich in Bildern. Oder Erinnerungen. Er kann nicht unterscheiden was real erlebt war und was irgendeiner obskuren Phantasie entsprang. Es sind nur Schnipsel, Blitzlichter.
Er selbst, wie er lachend einen Maulwurfshügel im Garten platt tritt und einige Meter von ihm entfernt das Tier wie mit einem Katapult aus dem Boden geschleudert wird. Erschrocken schaut er der Flugkurve hinterher.
Seine Mutter, wie sie versucht mit kräftigem Bürsten seine blonde Mähne zu bändigen, als in der Küche die Milch überkocht. Wie sie ihn stehen lässt und fluchend in der Küche den Topf vom Herd reißt.
Die Fahrt in dem alten 2CV, als er seinen Kopf aus dem Fenster in den Fahrtwind hält. Mitten auf der Autobahn. Er muss seine Augen zusammen kneifen, spürt, wie das Haar im Wind nach hinten gerissen wird. Mutter schreit, Vater lacht. Lass ihn doch.
Eine Schneeflocke, die auf Mayas zartrosa Wange schmilzt, während er ihre Hand zum Abschied hält. Sie lächelt, während sich immer mehr Flocken in ihrem roten Haar und auf ihren langen Wimpern sammeln und sich wieder verflüchtigen.
Etwas Fedriges liegt auf seiner Stirn.
Ariel schlägt die Augen auf. Der Flügel eines Steinkauzes berührt ihn sanft. Es ist bestimmt der Kauz, der ihn zuhause abgeholt hat. Er sieht ihn an , als wolle er sagen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
„Es gibt nichts zu bereuen, oder?" fragt Ariel.
Der aufmerksame Blick des Steinkauzes verändert sich nicht. Allgemeines Flügelschlagen setzt ein, erste Rufe ertönen. Siebzehn Vögel zählt er.
„Kiutt!"
Der Flügel verlässt die Stirn und Ariel erhebt sich langsam. Jetzt ist er bis hierhin gegangen und er wird der Vogelschar auch weiterhin vertrauensvoll folgen. Er holt die Taschenlampe aus seinem Rucksack und schaltet sie ein. Er leuchtet nur jeweils zwei Meter vor seine Füße, um Unebenheiten im Untergrund erkennen zu können. Die Dunkelheit umgibt ihn wie eine riesige Schutzblase. Die Kauze kommunizieren so laut, dass er ihren Stimmen folgen kann.
Der Bodenbelag hat sich verändert. Ariel bewegt sich über grobes, graues und schwarzes Gestein. Mit der Lampe dreht er sich einmal im Kreis. Bäume, Büsche und grün sind verschwunden. Es ist kahl und öde. So stellt er sich die Mondlandschaft vor, nur mit mehr Kratern. Er weiß nicht mehr aus welcher Richtung er gekommen ist. Wo die Stadt liegt. Die Blase hat ihn eingeschlossen. Denken war für lange Zeit abgeschaltet. Keine Bilder haben ihn abgelenkt. Er scheint nur bei sich und dem r´Ruf der Steinkauze gewesen zu sein. Die Wahrnehmung nur auf sich selbst und die gefiederten Begleiter ausgerichtet. Ariel setzt seinen Weg fort. Mit einem Mal kennt er sein Ziel. Mit einem Mal erkennt er die Aufgabe der Steinkauze. Er hat keine Vorstellung davon, wie es dort aussehen wird, aber ist vollkommen angstfrei. Er ist nicht allein und er wird es nie wieder sein. Nicht, so lange er lebt.
Ariel schaltet die Taschenlampe aus. Die Rufe der Vögel werden lauter. Er nähert sich ihnen unaufhaltsam. Ihre Stimmen kommen von unten, nicht mehr aus der Luft.
Bald darauf sieht er ihre gelben Augen in der Dunkelheit leuchten. In ihrer Mitte erblickt er einen grünen Stengel aus der Erde wachsen. Einsam. Eine einzelne grüne Pflanze ragt zwischen den Steinen empor. Hier gibt es kein Wasser, keine fruchtbare Erde, aber Leben.
Ariel spürt, wie erneut Schwäche von ihm Besitz ergreift. Er legt sich flach auf das Gestein, dessen Druck er im ganzen Körper spürt. Zwei Blätter der Grünpflanze legen sich auf seine Schultern. Die Kauze rücken nah an ihn heran.
„Ich frage nicht nach euren Namen. Aber danke, dass ihr mich geführt habt."
Die Flügel der Vögel lassen sich auf Ariels Körper nieder. Wärmen ihn, obwohl er keine Kälte spürt.
Er lächelt.
„Sag Maya, sie soll nicht traurig sein.", spricht Ariel den Kauz an, der ihn abgeholt hat. „Jedesmal wenn es schneit, wird sie spüren, dass ich bei ihr bin. Ich glaube, meine Eltern wissen Bescheid. Sag ihnen, ich bin so lang geblieben, wie es möglich war. Sie haben mich heranwachsen sehen."
Ariel schließt die Augen und lächelt zufrieden.
Als es hell wird nehmen die Steinkauze ihre Flügel von dem toten Körper des Jungen und machen sich schweigend auf den Weg. Es gibt noch viel zu tun.

Text: Matthias Rische

 


Menschen und Strassen

Willibald Weber durchstreift die Stadt. Das macht er seit Jahren. Jeden Tag. Bei jedem Wetter. Er ist nicht sesshaft genug, um immer am gleichen Stammplatz zu nächtigen. Braucht eine andere Umgebung und unterschiedliche Menschen, mit denen er sich auseinandersetzen möchte. Die er sehen möchte – und sei es nur, um zu schauen, ob sie noch leben.
Es nieselt. Und für Anfang Oktober ist es ungewöhnlich kühl.
Willibalds Schuhe sind durchgelaufen. Kein Wunder, dass ihm die Füße weh tun. Früher hat er weitaus mehr Kilometer zurückgelegt. Heute hindern ihn sein Alter und die offenen Beine daran, sein Tagesziel zu erreichen. Es gab Zeiten, da ist er auf zehn bis zwölf Kilometer pro Tag gekommen.
Heute ist sein Ziel, die nächste offene Kirche zu erreichen. Für eine warme Mahlzeit und etwas Zuspruch.
Wenn er sich auf den Straßen umschaut, hat er das Gefühl, die Tippelbrüder werden von Tag zu Tag mehr. Mehr Existenzen, die sich den Anforderungen der Gesellschaft entziehen. Armselige Gestalten sitzen in Hauseingängen und spucken Blut auf die Pflastersteine. Verborgen in der Dunkelheit. Eigentlich sind sie schon vor langer Zeit gestorben. Als der letzte Mensch, den sie gekannt haben, sie vergaß. Die Stadt hat es nicht nötig ihren Unrat zu verbergen. Er macht sich selbst unsichtbar.
Das ist, neben der Unruhe in den Beinen der Grund für Willibald, durch die Stadt zu ziehen. Um den Verlorenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass sie nicht alleine Sterben müssen. Er hat schon zu viele Fundleichen gesehen. Menschen ohne Wohnsitz, Papiere und Bekannte oder Verwandte. Manche sogar ohne bekannten Namen. Sie werden aufgelesen und vom Staat billig entsorgt. Jemand muss ja für ihre letzte Ruhestätte sorgen.
So folgt häufig auf ein würdeloses Leben auch eine Beerdigung ohne Würde. Am Grab stehen lediglich ein Pfarrer und die Sargträger.
Würde.
So sehr Willibald versucht diese aufrechtzuerhalten, auch er hat dabei schon oft versagt. Aus der Not heraus.
Er hatte schon immer schlechte Zähne. Das Leben auf der Straße hat deren Zustand nicht verbessert. Sie brachen oder fielen aus. Da half es auch nichts, sie morgens mit dem zu spülen, was gerade da war. Vom Vorabend übrig. Mit Wasser, Bier oder Schnaps. Nach und nach verließen sie ihn oder brachen einfach nur ab, wenn er auf ein Stück hartes Brot biss, welches er in einem Abfalleimer gefunden hatte.
Die alte Rita hatte ihren letzten Atemzug in seinen Armen getan. War eingeschlafen. Aus. Lange ließ er ihren Kopf in seinem Schoß liegen. Sie sollte es weich und warm haben. Am Ende. Dann griff er der toten Frau in den Mund und löste ihr Gebiss aus. Ohne darüber nachzudenken schob er es in seinen. Es passt nicht wirklich, aber er hatte dass Gefühl, er durfte andere jetzt wieder anlächeln, ohne dass die sich vor Ekel von ihm abwandten. Oder Kinder mit dem Finger auf ihn zeigten.
Wo war da sein Gedanke an Ritas Würde? Vielleicht war er ja doch nur ein alter, verbitterter und verwahrloster Egoist?
Wenn es ihm gelingt und er in der Nähe ist, verbringt Willibald einen Nachmittag auf den Stufen zum S-Bahnhof Tempelhof. Andere Penner verhöhnen ihn dafür. Sie verbringen die Tage lieber in Parkanlagen, im Grünen.
Aber er braucht das Gefühl, sich in Massen von Menschen zu bewegen oder aufzuhalten. Dazuzugehören. Und sei es nur in seiner Vorstellung. Dort sitzt er immer auf der dritten Stufe von oben. Seinen ausgefransten Hut eine Stufe über ihm, die Flasche mit Wasser eine unter ihm. Alkohol gibt es erst nach 17 Uhr. Hin und wieder summt er eine alte Melodie vor sich hin. Five Years von David Bowie. Der Text ist in seinen, vom Alkohol zerfressenen, Gehirnwindungen verloren gegangen. Aber dieses Lied verbindet er mit einer Wendezeit in seinem Leben.
Hin und wieder hält er die Augen geschlossen, weil er es nur schwer ertragen kann, dass er mittendrin sitzt und die Leute einen großen Bogen um ihn machen. Aber wenn er es kann, wenn es ihm gelingt, blickt er den Frauen, Männern und Kindern so fest in die Augen, wie er kann. Oft schauen sie dann abrupt weg, als fühlten sie sich ertappt. Ertappt dabei, einen von der Gesellschaft ausgestoßenen zu betrachten. In ihrem Blick liegt Abscheu. Manchmal auch Erleichterung oder Mitleid.
Willibald bettelt nicht. Er sitzt auf den Stufen und lächelt. Dieses alte, graue Gesicht lächelt. Lächelt mit Ritas Zähnen. Vielleicht ist sie ja so noch ein wenig bei ihm, in ihm. Hilft ihm, den einen Menschen zu treffen, der ihn davor bewahren wird, zu einer Fundleiche zu werden.
Hier, wo die Menschen ankommen, abfahren und hin und wieder innehalten. Den einen Menschen, der sich zu ihm setzt und sagt: „Mensch Alter, du könntest doch ganz anders leben. Ein schönes Bad, die Nutzung eines Kamms und zwei oder drei ordentliche Mahlzeiten am Tag. Was machst du hier?"
Dann würde er die Augen niederschlagen und beschämt tun, oder sich tatsächlich so fühlen. Er könnte dem Menschen seine Geschichte erzählen. Von einem einzigen begangenen Fehler. Vom Verlust des Vertrauens in eigene Entscheidungen. Von daraus resultierender Selbstaufgabe. Vom Fall ins Bodenlose. Vom harten Aufschlag auf der Straße, dem sich wieder Aufrappeln und seiner Begegnung mit dem Tod. Von einer veränderten Sicht auf Menschen und das Leben. Und von seiner Angst, beim Ableben allein zu sein, wie hundert andere vor ihm.
Aber er sagt, jetzt wieder mit offenem Blick. „Ich hab´s mir ausgesucht, dieses Leben. Und ich lebe es bis zum Ende. - Danke für dein Interesse. - Wenn du mir etwas Gutes tun willst, behalte mich im Auge und sorge für ein anständiges Begräbnis, wenn ich gegangen bin. Die Menschen sollen singen und tanzen. Für Trauer ist kein Platz. Orgel, Gitarren und ein Schlagzeug sollen aufspielen. Und wenn die Musik abebbt und die Gäste halbwegs zur Ruhe kommen, sollen sie an Rita denken. Und an Hermann, Klaus und Sergej. Und dann soll das Grab zugeschüttet und auch gleich wieder vergessen werden. - Würdest du das für mich tun."
Der Mensch weiß nicht, ob er lächeln oder betroffen sein soll. Er greift in seine Gesäßtasche und holt ein Portemonnaie heraus. Er fingert einen Fünfeuroschein daraus hervor und wirft ihn den Hut. Dann erhebt er sich.
„Ich komme wieder."
Er streckt Willibald zum Abschied die Hand hin.
Willibald hat diesen Menschen die folgenden Monate nicht wieder gesehen.
Als es allmählich dunkel wird sucht er das Tempelhofer Feld auf. Schön grün ist es geworden, denkt er. Dennoch hält er sich an die gepflasterten Wege.
Er weiß, dass ihn die Ordnungshüter früher oder später hinaus begleiten werden. Hier wird abends alles abgeschlossen. Bloß den Tippelbrüdern keine Möglichkeit zur Übernachtung bieten. Das könnte ja einen schlechten Anblick für die vielen Berlintouristen bieten.
Und wenn es nur ein paar Minuten werden, die er das Gefühl hat, Sauerstoff zu atmen.
In einiger Entfernung sieht er ein Blaulicht die Dunkelheit durchschneiden. Erwartungslos und tief einatmend geht er auf das Licht zu. Ursprünglich wollte er Heiner, den Imbissbetreiber hier, um eine Currywurst bitten, nicht zu stark gewürzt, damit sein Magen nicht rebelliert. Aber von Ferne sieht er, dass es dafür offenbar zu spät ist.
Willibald hat beinah den Krankenwagen erreicht, als Bastian, einer der Sanitäter, mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu kommt, um ihn auf Abstand zu halten. Für bestimmte Menschengruppen ist Berlin ganz schön klein. Man kennt sich und trifft sich immer wieder.
„Ist es einer von uns?", fragt Willibald mit einer Vorahnung.
Bastian nickt.
„Karotte. - Es ist das passiert, was zu erwarten war. Nicht medizinisch ausgedrückt würde ich sagen, er hat sich totgesoffen."
Diesmal ist es Willibald der nickt.
„Ja, das hat er wohl! Er war längst überfällig. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich keine Leiche zu Gesicht bekomme. Sie gehen alle. Ist nur eine Frage der Zeit und der Umstände. Solange sie friedlich einschlafen, ist fast alles in Ordnung."
Der letzte Satz klingt, als hätte der alte Mann längst resigniert. In Gedanken versunken setzt er seinen Weg fort. Wenn er hier quer durch geht, kommt er in Neukölln raus. Es nieselt immer noch. Langsam aber stetig.
„Willi!", ruft ihm Bastian aus einiger Entfernung hinterher.
Der bleibt stehen, blickt aber nicht zurück.
„Wenn es bei dir mal so weit ist, ich kümmere mich um dich. Deine Beerdigung und so. Schreib es halt irgendwo auf, dass sie mich benachrichtigen sollen."
Einen Moment glaubt Bastian Willi hätte ihn gar nicht verstanden. Dann dreht sich der Alte doch noch um und winkt, mit einem Gegenstand in der Hand.
„Ich danke dir. Aber die Zähne, die Zähne nimm mir raus und gib sie jemandem, der noch eine Verwendung dafür hat."
Willibald dreht sich um und geht langsam lächelnd auf den Hinterausgang zu. Für die Begegnung mit solchen Menschen, die sehend und mitfühlend durch die Welt gehen, lohnt es, noch den einen oder anderen Tag durchzuhalten.
Die Richardkirche wird heute wohl nicht mehr erreichen.

Text: Matthias Rische

 

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