Herkunft
und Entwicklung der Wale
David
G. Senn,
Meeresbiologe an der Universität Basel
Weil Wale nicht einfach nur minimal an das Leben im Wasser angepasst sind,
sondern sich dann mindestens so vollendet tummeln wie Fische, fällt uns
die Vorstellung schwer, sie von landbewohnenden Säugetieren abzuleiten.
Wenn wir in die enormen Zeiträume der stammesgeschichtlichen Entwicklung
zurückblicken, stellen wir immer wieder fest. dass die Wasser-Land-Grenze
eine markante Trennlinie zwischen zwei sehr verschiedenen Lebensbereichen
darstellt und dass die Überschreitung dieser Grenze in der einen oder
anderen Richtung mit einschneidenden Entwicklungsschritten verbunden war.
Ursprünglich stammt ja das Leben aus dem Wasser; pflanzliche und
tierische Organismen entwickelten ihre Formenvielfalt während über drei
Milliarden Jahren in den Ozeanen.
Es war ein Aufbruch in eine neue Welt, als das bis dahin steinige, felsige
und sandige Land der Kontinente vor etwa 400 Millionen Jahren mit Leben
besiedelt wurde. Unter den Pflanzen waren es Grünalgen, die sich
zunehmend über die Ufer hinaus ausbreiteten. Es entstanden neue
Verwandtschaftsgruppen, so Moose. Farne und Schachtelhalme; sie gehörten
alle zu den Sporenpflanzen Auch bei Tieren gab es den Aufbruch aufs Land:
Aus der Verwandtschaft der Gliedertiere waren es die Insekten und Spinnen,
die den terrestrischen Lebensraum erschlossen. Auch landbewohnende Würmer
und Schnecken traten auf. Besonders bemerkenswert
waren die
Wirbeltiere, aus quastenflossigen Fischen entwickelten sich
Amphibien, die ihre Flossenpaare
in landtaugliche Extremitäten verwandelten.
Der Weg aus dem Wasser ans Land war ein vielfach praktizierter Aufbruch.
Dadurch, dass mehrere Pflanzen- und Tiergruppen am Land auftraten und sich
dort auch vielfältig weiterentwickelten, bekamen die Kontinente ein ganz
neues Gesicht: sie wurden im komplexen Sinne belebt.
Auch der umgekehrte Weg, der vom Land wieder ins Wasser führte, wurde
vielfach in unabhängigen Stammeslinien praktiziert. Reptilien wie auch Säugetiere
und Vögel entwickelten Wasserbewohner, die sich im Wasser ebenso virtuos
tummeln wie die primär aquatilen Fische. Die sekundären Bewohner der
Ozeane zeigen eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen:
Die schon für das Landleben geeignete Lungenatmung wurde beibehalten; so
muss regelmässig an der Wasseroberfläche Luft geatmet werden
Auch die Extremitäten wurden neu gestaltet, indem sich landgängige
Beine mit Pfoten in Flossen verwandelten. Auch die Körpergestalt erfuhr
bemerkenswerte Änderungen, indem die hydrodynamische Spindelform die
Kontur von Landtieren ablöste. Eine äusserliche Ähnlichkeit mit Fischen
ergibt sich aus der zwingenden Notwendigkeit, mit einer strömungsgünstigen
Gestalt den physikalischen Gesetzmässigkeiten zu genügen.
Von landbewohnenden Stammreptilien leiten sich zwei
ans Meeresleben angepasste Gruppen ab: Die Ichthyosaurier
(Fischsaurier) entwickelten sich in der Trias, das heisst vor etwa 200
Millionen Jahren. Sie wiesen eine perfekte Fischgestalt auf dies versetzte
sie in die Lage, als schnelle und überlegene Jäger ihre (Fisch-) Beute
zu machen. Bei Ichthyosauriern erfolgte der Antrieb mit einer neu
differenzierten Schwanzflosse. Eine zweite Gruppe umfasste die
Plesiosauner (Paddelechsen)
und die Placodontier
(Pflasterzahnsaurier). Sie trieben sich mit den flossengestaltigen
Extremitäten an.
Auch aus der Gruppe der Schildkröten entstanden viele aquatile Formen. In
hohem Masse ozeanisch wurden die Meeresschildkröten, von denen es schon
aus dem Erdmittelalter zureiche fossile Belege gibt. Meeresschildkröten
treiben sich mit den Vorderextremitäten an, die als Propellerflügel
gestaltet sind.
Bei den Säugetieren sind drei voneinander unabhängige Entwicklungslinien
zu nennen, die auf ihre Weise die vollendete Anpassung an ozeanisches
Leben schafften. Die Wale (Cetacea), die heute wohl
spezialisiertesten Meeressauger, entsprangen im Eocaen, vor gut 50 Millionen Jahren, primitiven Huftieren.
Die Robben (Pinnipedia) sind nahe Verwandte der Landraubtiere
(Fissipedia),
sie durften von Bärenartigen abstammen. Ihre Ungergruppen unterscheiden
sich allerdings beträchtlich voneinander. Die Ohrenrobben
(Otarriidae),
zu denen die Seelöwen und Pelzrobben gehören treiben sich im Wasser mit
flippergestaltigen Vorderflossen an.
Auch an Land, oft zerklüfteten Felsküsten, sind sie geschickte
Bewegungskünstler, dies wird übrigens auch bei den Zirkusseelöwen
deutlich Die Vertreter der Seehundartigen (Phocidae) dagegen schlängeln
mit der vertikal gespreizten Hinterflosse lateral hin und her, um sich
nicht allzu eilig, jedoch wirksam anzutreiben. An Land wirken sie plump,
weil sie sich angesichts der kurzen Vorderflossen auf dem Bauch wobbelnd
vorwärtsrobben. Schließlich gibt es die Seekühe (Sirenia) deren
verwandtschaftliche Verbindung zu den Vorläufern der Huftierähnlichen (Paenungulata),
etwa der Proboscidea (Elefanten) besteht.
Meeresbewohnende Vögel gäbe es viele aufzuzählen. Stellvertretend seien
hier nur jene erwähnt, welche die Anpassung ans schnelle, fischähnliche
Schwimmen im Wasser in besonderem Masse beherrschen. Die Pinguine
(Sphenisciformes),
„mussten“ allerdings, um die Fortbewegung im Wasser so perfekt zu
vollführen, auch „Opfer“ bringen. Die Flugfähigkeit in der Luft
wurde zugunsten des Schwimmens im Wasser eingebüsst.
Die Vervollkommnung sekundärer Meeresbewohner äussert sich auch darin,
dass die schnelle und weiträumig wichtige Fortbewegung energiesparend
.gestaltet wird. Eine wichtige Methode ist die, die wir typischerweise von
Delphinen kennen. Ab einer bestimmten Reisegeschwindigkeit wird ein
kleiner Teil der Reisestrecke in die Luft verlegt, das heisst, die sinusförmige
Schwimmbahn führt im oberen Bogen über einen Luftsprung. Delphine
springen. Dieses „Delphinieren“, im Englischen als „Leaping“ oder
„Porpoising“ bezeichnet, wird aber nicht nur bei Delphinen und anderen
Walen beobachtet, sondern auch bei Pinguinen und Seelöwen.
Ursprünge
Huftiere
sind allgemein als Herbivoren (Pflanzenfresser) bekannt, die Ernährung
die Ernährung von Pflanzen dürfte auch bei den Urhuftieren Eozäns
vorgeherrscht haben. Immerhin
gab es damals auch Ausnahmen, so die Gruppe der Mesonychiden. wie dies am
Gebiss abzulesen ist. Vor etwa 55 Millionen Jahre lebte Pachyaena
ossifraga, ein Tier das in Grösse und Körpergestalt einem Wolf
glich. Wie alle Angehörigen der Urhuftiere (also auch der
Pflanzenfresser), hatten die Füsse noch weitgehend „Pfotengestalt“,
sie waren noch nicht als Hufe mit hornig verhärteten Zehenenden
differenziert.
Pachyaena
war ein typischer Landsäuger, der umherstreifte, um Beute zu jagen. In
seiner Verwandtschaft entwickelten sich Formen, die sich zunehmend an und
in Gewässern aufhielten Sie dürften sich auch an die Jagd nach Fischen
angepasst haben
Urwale
Später
traten Tiere auf, die sich verstärkt an das Leben in Gewässern
anpassten. Es waren Jäger, die sich in Küstennähe im Meer und
wahrscheinlich auch im Bereich von Flussmündungen aufhielten. Solange
Urwale im Küstenbereich verbreitet waren, jagten sie in erster Linie
Fische; später, als das offenere Meer auch zum Lebensraum gehörte, dürften
auch Kalmare erbeutet worden sein.
Fossilie Urwale (Archaeoceti), die vor allem in Pakistan gefunden wurden,
lebten vom Eozän bis zum
Miozän (vor etwa 50 - 20 Millionen Jahren). Bemerkenswert ist dass das
Gebiss noch die für Säugetiere typische Heterodontie
mit den unterschiedlichen Zahntypen Incisiva (Schneidezähne), Caninus
(Eckzahn), Prämolaren (Vormahlzähne) und Molaren (Bakenzähne) aufweist.
Ein Fossil, das vor knapp 50
Millionen Jahren lebte, dokumentiert einen weiteren Schritt. Ambulocoetus,
ein wahrscheinlich amphibisch lebendes Tier, war drei Meter lang,
sein Gewicht dürfte um 300kg betragen haben. Die Vorderbeine waren kräftig
gebaut, sie eigneten sich für die Fortbewegung an Land und auch zum kräftigen
Rüdem im Wasser. Auch die Hinterbeine und der lange, spitz zulaufende
Schwanz könnten bei der Fortbewegung mitgewirkt haben. Vielleicht hat der
Schwanz schon Auf- und
Abschlagbewegungen ausgeführt.
Einige Zeit später, vor etwa 46 Millionen Jahren, lebte ein Urwal, der
sich schon die meiste Zeit im Ozean aufgehalten haben dürfte. Rodhocetus
hatte stark rückgebildete Hinterbeine (später wurden die Hinterbeine in
der Stammeslinie der Wale völlig zurückgebildet). Der lange
hydrodynamische Körper dürfte hinten in einer Schwanzflosse geendet
haben. Wir nehmen an, dass sich das Tier durch Auf- und Abbiegungen des Körpers
und des Schwanzes antrieb. Rodhocetus besass stark verkürzte
Halswirbel, ein Merkmal, das in noch stärkerem Masse den modernen Walen
eigen ist.
Unter den fortgeschritteneren Urwalen ist vor allem Basilosaurus zu
nennen. In Körpergestalt und rein aquatischer Lebensweise war er ein
differenzierter Wal. Einzig die Bezahnung war noch heterodont: es kamen
noch mehrhügelige Molaren (Mahlzähne) vor.
Im überblick ist die Evolution der frühen Wale als eine Möglichkeit zu
sehen wie eine landbewohnende Wirbeltiergruppe einen völlig neuen
Lebensraum erschloss Dazu waren umfassende anatomische und funktionelle
Umwandlungen nötig. Die Anpassung an den ozeanischen Lebensraum war
lohnend, denn es gab hier Fische und Kalmare als schier unerschöpfliche
Nahrungsressource. Um die Beute erwischen zu können, brauchte es einen überlegenen
Lokomotionsapparat. Die (säugertypischen)
Kräfte des sich auf- und abbiegenden Rumpf-Schwanz-Bereichs wurden nicht
mehr auf galoppierende Beine sondern auf eine neugebildete Schwanzfluke übertragen.
Um Kräfte zu sparen war die hydrodynamische Spindelform des Körpers
wichtig; eine Gestalt, die durch den Fett-Blubber in der Unterhaut geformt
wurde. Im sich biegenden Körper wurden die Hinterbeine überflüssig und
reduziert. Die Vorderbeine erführen eine Umgestaltung zu Brustflossen.
Der Hals der die hydrodynamische Körperform stören würde, wurde verkürzt,
so dass der Kopf de facto dem Rumpf anliegt. So gelang es den Urwalen. so
perfekte und überlegene Schwimmer zu werden, dass schnelle Fisch- und
Kalmar-Beute erreichbar wurde.
Entwicklung
und Vervollkommnungen
Eine
gängige These besagt, dass es einen zunehmenden Grad der Vervollkommnung
gibt, indem zunächst die Zahnwale entstanden seien, die 'noch' ein Gebiss
besassen, wenngleich ein abgewandeltes. In einem weiteren Schritt seien
dann die spezialisierteren Bartenwale entstanden, die gar kein Gebiss mehr
differenzieren und zum Filtrieren planktonischer Nahrung die hornigen
Barten als Reusenapparat entwickelten. Sowohl vergleichend-anatomisch wie
auch funktionell liesse sich eine progressive Reihe „Urwale – Zahnwale
- Bartenwale“ aufstellen. So einleuchtend diese Sicht auf den ersten
Blick sein mag, sie hat ihre Tücken. Verwirrend ist nämlich, dass sowohl
die Zahnwale wie auch die Bartenwale auf ihre Weise generalisierte, das
heisst primitive Merkmale aufweisen.
Zweifellos stehen die Zahnwale in Bezug auf die Ausstattung der Kiefer den
Urwalen deutlich näher als die Bartenwale. Gegenüber ihren heterodonten Vorfahren haben die
Zahnwale eine sekundäre Homodontie
entwickelt, dies als Anpassung, mit dem Gebiss agile und glatte Beute
(Fische. Kalmare) festzuhalten. Vergleichsweise sind die Bartenwale. die
gar keine Zähne mehr entwickeln, spezialisierter. Es sind aber andere
Merkmale zu beobachten, in denen die Bartenwale generalisierter
erscheinen. Sie besitzen noch kleine Reste eines Beckengürtels. Im Zuge
der Reduktion der Hinterextremitäten sind die Zahnwale abgeleiteter; sie
zeigen gar keine Reste des Beckengürtels mehr.
Noch deutlicher präsentiert sich in dieser Hinsicht die Anatomie der
Nase. Bartenwale haben gemäss dem Säugerbauplan eine Nase mit zwei
äusseren Nasenöffnungen. Die paarigen Blaslöcher liegen nahe
beieinander. Spezialisierter sind die Zahnwale, die durchwegs ein unpaares
Nasenloch besitzen. Dieses kann überdies noch asymmetrisch gestaltet
sein; beim Pottwal ist es nach der linken Kopfseite verschoben
Die Urwale, die seit dem Eozän verbreitet waren und im Oligozän wieder
ausstarben, wurden von beiden Gruppen, den Zahn- und den Bartenwalen abgelöst.
Zahn- und Bartenwale dürften Schwestergruppen sein. Beide Gruppen haben
je auf ihre Weisegewisse primäre Merkmale erhalten und auch je auf ihre
Weise abgeleitete Merkmale als Spezialitäten entwickelt.
Die heute bekannte fossile Dokumentation besagt, dass sich die Bartenwale
gut an die Urwale anschliessen lassen. Schwieriger sind die Zahnwale, die in ihrer frühen
Geschichte
fossilmässig schlecht dokumentiert sind. Dennoch ist es vernünftig.
Zahnwale von den Urwalen abzuleiten.
Heterodont ist ein Gebiss,
da sich aus unterschiedlichen Zahntypen zusammensetzt.
Heterodont ist ein Gebiss,
das aus ungleichen Zahntypen besteht; bei Urwalen waren es, wie bei
den meisten Säugetieren, Schneide- (Incisiven), Eck- (Caninus) und
Malzähne (Prämolaren und Molaren).
Homodont ist ein Gebiss, dass aus einer gleichmässigen Reihe von Zähnen
desselben Typs besteht.
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