Weisse
Feder
Er
versuchte die Geräusche zu unterscheiden, waren es Traumfetzen, die
irgendwo in seinem Bewusstsein hängengeblieben waren, hatte er eine
Stimme gehört. Langsam begann sich sein Geist zu orientieren. Er öffnete
die Augen, über ihm wölbte sich in fleckigem Grau das Moskitonetz. Das
fahle Morgenlicht drang durch die breiten Ritzen der Bambushütte. Über
einen der rohen Holzbalken hatte er am vergangenen Abend seine Hose und
das T-Shirt geworfen. Sein Blick blieb an dem schwarzen Schatten hängen.
Plötzlich fühlte er die Kühle des Morgens auf seiner nackten Haut, er
wollte nach dem Baumwolllaken greifen, das zerknüllt neben ihm lag, sich
noch einmal einwickeln, doch irgendetwas trieb ihn dazu, die Hütte zu
verlassen. Im Schilf des Daches bewegte sich raschelnd ein Tier. Er
schlug mit der Faust gegen einen
Holzbalken. Es war ein matter Schlag, er spürte die Schwere seines
Armes, noch war sein Körper kraftlos, nicht auf die Begegnung mit der
Welt eingestellt.
In den Träumen ist die
Tapferkeit eine andere, schoss es ihm durch den Kopf. Mechanisch, mit
den Bewegungen einer Raupe, zog er die Beine an, schob das Becken
vorwärts, streckte die Beine und wiederholte die Bewegung bis die Füße
schließlich unter dem Moskitonetz hervorschauten, langsam bewegte er
sich weiter, schließlich stand er auf dem groben Holzdielen des Bodens,
spürte die feinen Sandkörner unter seinen Fußsohlen, mit einer
spielerischen Bewegung schob er mit dem großen Zeh einen Papierfetzen
vor sich her, bis dieser in einer der vielen Spalten im Boden
verschwand. Praktisch, dachte er, nur müsste irgendjemand mal unter
der Hütte den Dreck wegfegen,er kratzte sich an der Schläfe, beinahe
eine Geste der Verlegenheit. Im Halbdunkel des Raumes tastete seine Hand
nach der Wasserflasche, er fühlte seine Zunge dick und pelzig in der
Mundhöhle, endlich hatte er die Flasche gefunden, setzte sie an die
Lippen. Mit langen ruhigen Zügen trank er, spürte das kühle Wasser die
Speiseröhre hinunterfließen und wie sein Magen schwer wurde.
Während er mit der einen Hand die Flasche auf den Boden stellte, zog er
mit der anderen die Hose von dem Balken, das T-Shirt rutsche mit
herunter, blieb auf seiner Schulter hängen, mit einigen raschen,
zielgerichteten Bewegungen zog er sich an, als wäre es nun Zeit
aufzubrechen. Er zog den Kopf ein, trat hinaus auf die winzige Veranda
vor der Hütte und stieg die drei wackligen Stufen hinunter. Sein Blick
blieb auf einer Hibiskusblüte hängen, ihr tief dunkles Rot hielt seinen
Blick fest, wie Finger streckten sich ihm die gelben Staubgefäße
entgegen. Er zwang sich seinen Blick loszureißen, es schien ihm, als
würde die Tiefe der Blüte ein intimes Geheimnis verbergen, das ihm
verwehrt war, zu betrachten. Mit vorsichtigen Schritten ging er den
Kiesweg entlang hinunter zum Meer. Er rollte die Zehen zusammen, bemühte
sich vorsichtig aufzutreten, dennoch drang bei jedem Schritt ein
scharfer spitzer Schmerz in sein Gehirn. Aus den umliegenden
Bambushütten tönten ie gedämpften Schlafgeräusche anderer Bewohner der
kleinen Feriensiedlung. Durch eine schmale Buschreihe trat hinaus auf
den Strand. Der Sand war feucht und kühl, sein Blick wanderte den
sanften weiten Bogen der Bucht entlang, ganz am Ende entdeckte er die
Umrisse von zwei Schiffen, langgestreckt, mit hochgezogenem Bug, dann
auch die Fischer, die sich an den Booten zu schaffen machten. Die Sonne
war noch hinter dem Saum den Palmen verborgen, die wie eine
Scherenschnittgrafik den Strand zum Land abschlossen. Erst jetzt
entdeckte er, daß sich das Wasser mit der Ebbe weit zurückgezogen hatte,
ein dunkles Wolkenband zog sich über den Horizont, ließ Meer und Himmel,
die sich in seinen Sinnen begegneten, miteinander verschmelzen.
Neugierig wanderte sein Blick die ganze Breite des Strandes entlang, als
gäbe es dort etwas zu entdecken, was das Wasser solang verborgen
gehalten hatte. Sein Blick wurde noch einmal von den beiden
Fischerbooten angezogen, für einen Augenblick schien er entschlossen
dorthin zu laufe, doch dann wandte er sich, einem ruckartigen Impuls
folgend, der anderen Seite des Strandes zu. Hier erstreckte sich eine
Landzunge ein Stück ins Meer hinaus, dahinter endete der lange
Sandstrand, wurde von Felsblöcken unterbrochen bis schließlich eine
Steilküste emporwuchs, die jetzt noch seinem Blick verborgen war.
Er ging den Strand schräg hinunter auf die Felsen zu. Bei jedem
Tritt, mit dem er einen Fuß auf dem Sand aufsetzte, huschten ein paar
Taschenkrebse davon, verschwanden blitzschnell in ihren Löchern. Im fiel
auf, dass jeder Krebs in dem Loch verschwand, das am nächsten lag.
Entweder sie bleiben immer in der Nähe ihrer Löcher, dachte er, oder sie
flüchten sich einfach in irgendein dieser Erdhöhlen. Vielleicht haben
Taschenkrebse keine eigene Wohnung, überlegte er. Was wäre, wenn ich
keine eigene Wohnung hätte. Er runzelte die Stirn. Wenigstens eine Hütte
brauche ich, mit einem eigenen Bett, das würde ich auch teilen,
entschied er. Im Augenblick waren es Spinnen und Kakerlaken, die ihn in
der Nacht besuchten. Seit er an diesem Strand angekommen war, hatten
sich sein Anspruch an Bequemlichkeit und Komfort und sein Bedürfnis nach
menschlicher Nähe, vor zwei Wochen zu Hause noch selbstverständlich,
seltsam verändert. Jetzt hatte er die ersten Felsblöcke erreicht. Das
matte Braun der Steine erschien ihm wie die dunklen Rücken mächtiger
Tiere, die in den Sand gekauert auf ihn warteten. Zunächst war es
noch einfach, über die Felsen zu klettern, doch nach und nach wurde der
Weg schwieriger. Mühsam mußte er sich an einigen Stellen zwischen den
Blöcken, die hoch aufragten, einen Weg suchen. Der Geruch von Tang und
Salz kitzelte ihn in der Nase, er liebte diesen Geruch des Meeres. Der
feuchte Sand und die kühle des Schattens ließen ihn schaudern. Er zog
die Schultern hoch. Wo will ich eigentlich hin? schoss es ihm mit einem
mal durch den Kopf, doch die Antwort auf diese Frage gaben nicht die
Füße, irgendetwas in ihm trieb ihn vorwärts, ein Gefühl von Ahnung und
Sehnsucht. Ohne daß er es bemerkt hatte, war er auf einem
Steinplateau angelangt, zur Landseite erhob sich eine schroffe Felswand,
zum Meer hin endete die Felsplatte in Klippen und Geröll. Es fiel ihm
jetzt leichter zu laufen, der Boden war ziemlich eben. An einigen
Stellen gab es kleine Senken, die mit Salzwasser gefüllt waren. Wenn er
sich einem solchen Teich näherte, schossen winzige Fische blitzschnell
hin und her, um sofort in einer Spalte zu verschwinden. Die waren
Strahlen der Vormittagssonne hüllten ihn ein mit goldenem Mantel, wohlig
reckte er sich und wanderte weiter. Obwohl die Klippen zum Meer hin das
Laufen beschwerlicher machten, zog es ihn immer wieder auf diesen Weg.
Das Meer war ruhig, eine ganz sanfte Dünung ließ die Wellen leise gegen
die Felsen platschen. Er beobachtete die Sonnenstrahlen, die sich in dem
klaren Wasser mit immer neuen Mustern brachen. Und doch sieht jedes
Muster dem anderen ähnlich, dachte er. Gerade verspürte er einen Impuls,
sich auszuziehen, ins Wasser zu springen und zu schwimmen, als er
erschrocken stehen blieb. Vor ihm fielen die Felsen steil ab und
öffneten sich zu einer kleinem Bucht. Ihr Boden war mit strahlend weißem
Sand bedeckt. Der scharfe Kontrast zum Braun der Felsen schmerzte, er
kniff die Augen zusammen. Plötzlich entdeckte er, nahe am Wasser
sitzend, eine Gestalt. Das Glitzern der Sonne auf dem Meer blendete
ihn, angestrengt blickte er hinunter in die Bucht, er rieb sich die
Augen, dort saß eine Frau. Aufrecht, die Beine gekreuzt im Lotossitz,
erschien sie ihm wie eine Statur. Ihre Arme lagen auf den Oberschenkeln,
die Hände waren mit den Handflächen nach oben geöffnet. Das blonde Haar
lag eng an ihrem Kopf an, berührte mit den Spitzen ihre Schultern,
schien wie ein goldener Helm diesen Kopf zu bedecken. Er konnte ihr
Gesicht nicht sehen. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Brust, er
spürte daß er aufgehört hatte zu atmen. Pfeifend sog er die Luft ein.
Das Bild dieser Frau brannte sich tief in ihn ein. Er hatte sie
gefunden, die ihn gerufen hatte. Sie war nackt. Er blickte umher.
Nirgendwo konnte er ihre Kleider entdecken, keine Fußspuren waren
im Sand zu sehen. Erst jetzt bemerkte er eine handtellergroße Muschel,
die vor ihr im Sand lag, in der Muschel loderte eine kleine, blau
leuchtende Flamme. Sein Blick wanderte hin und her, das Bild der Frau
und die Flamme verschmolzen plötzlich zu einem Feuerball, eine
unsichtbare Kraft stieg empor aus der Bucht, hüllte ihn ein, ein Sog zog
ihn vorwärts. Er richtete sich auf, begann wie ein Schlafwandler am Rand
der Felsen entlangzulaufen. In seinem Kopf fand er einen Gedanken,
ich suche einen Weg, zu ihr. Seine Augen sagten ihm, dass es in diesen
Felsen, die so glatt und steil die Bucht umschlossen, keinen Weg geben
würde. Mit einem mal fand er sich wie ein Tier auf allen Vieren
kriechend, seine Hände suchten in den Vertiefungen zwischen den Felsen
einen Weg zu ihr. Er hatte die Augen geschlossen, spürte nicht die
sengenden Strahlen der Sonne, bemerkte nicht, dass er längst Hose und
T-Shirt ausgezogen hatte, so ertastete er sich den Weg, die Steine
öffneten sich ihm, wiesen ihn hinunter zum Strand. Kein Gedanke war in
seinem Sinn, als er schließlich den Sand unter seinen Fußsohlen spürte,
erst jetzt bemerkte er die Spannung in seinem Körper, fühlte die
ruckartigen Kontraktionen seiner Muskeln.
Schließlich hockte er
zusammengekauert wie ein Embryo im Sand, den Kopf gegen den harten
Felsen gelehnt. Die Augen hielt er geschlossen, was er wahrnehmen
konnte, war die Härte des Steins, das Blut hämmerte in den Schläfen. Der
Abstieg in diese Bucht hatte einen Bruch in seinem Zeitgefühl ausgelöst.
Als er schließlich die Augen öffnete, sah er das Wasser. Mehr als die
Hälfte der Bucht hatte es schon bedeckt. Die Frau war verschwunden. Ein
Schrei löste sich aus seiner Brust, er sprang auf, lief zum Wasser. Der
Weg erschien ihm unendlich lang. Ein rasender Schmerz trieb ihn
vorwärts, dem Meer entgegen.Er rannte solange, bis seine Beine im
flachen Wasser stolperten, er strauchelte, fiel hin, mit einigen
mechanischen Schwimmbewegungen bewegte er sich ein Stück vorwärts, die
Kühle des Wassers ließ ihn zur Besinnung kommen. Um ihn herum lag
das Meer ruhig im gleißenden Licht der Mittagssonne, nirgendwo konnte er
einen Menschen oder ein anderes lebendiges Wesen entdecken. Die Leere um
ihn herum erschreckte ihn. Wo bist du? hörte er sich flüstern. Er
schaute hinunter auf den Meeresboden, das Wasser war klar, deutlich
konnte er den gewellten Sand erkennen. Da entdeckte er einen kleinen
dunklen Schatten, es schien ein Stein zu sein. Ein paarmal atmete er
tief ein, dann tauchte er hinunter, um sich Gewißheit zu verschaffen.
Er fand die Muschelschale, in der die kleine blaue Flamme gelodert
hatte. Wie er seine Hand ausstrecken wollte erblickte er in der Schale
eine Perle, mit einer vorsichtigen Schwimmbewegung näherte er sich.
Da spürte er noch einmal, wie ein heißes Beben durch seinen Körper
zuckte. In der Perle erblickte er das Gesicht der Frau. Ihre Augen
schauten ihn an, waren voller Wärme. Ihr Mund lächelte, sie hatte ihn
leicht geöffnet, ihre Lippen schienen sich zu bewegen, er versuchte die
Worte, die sie zu ihm sprach, zu verstehen. Oder täuschte ihn die
Bewegung der Wellen? Die hellen Haare umspielten ihren Kopf, plötzlich
erfaßte er, wie vertraut ihm dieses Bild war, er kannte es, er erinnerte
sich, an die sanfte Kühle der Haut, an die zärtliche Berührung ihrer
Lippen. Ihr Lachen klang in seinen Ohren, ihre kindliche Fröhlichkeit
und ihre tiefe Weisheit fanden ihren Weg in sein Herz. Es waren keine
Worte, die zu ihm drangen, ein altes, vertrautes Wissen erwachte in ihm.
Er streckte dem Bild seine Hände entgegen, doch als er sie berühren
wollte, zerfloss das Bild, löste sich auf und verschwand in der Bewegung
des Meeres. Er schrie auf, erst jetzt spürte er den stechenden Schmerz
in seiner Brust. " Nein! ", schrie er, schoß empor, sein Kopf durchbrach
die Wasseroberfläche. "Nein, nein, nein,!" er hielt die Hände vor das
Gesicht gepresst, seine Tränen vermischten sich mit dem Salz des Meeres,
das stahlharte Blau des Himmels fiel auf ihn herab, mit dem Rücken lag
er auf dem Wasser, immer wieder fühlte er, wie sein Körper zuckte, sein
Schluchzen tönte wie der Klagegesang eines verwundeten Tieres aus der
Tiefe des Meeres. Noch wühlte der Schmerz in seiner Brust, angestrengt
suchte er seinen Atem, ballte die Hände zu Fäusten, zog die Kniee an,
streckte die Beine wieder.
Später, so viel Zeit war vergangen, da begann er zu spüren. Unsichtbare
Hände hielten ihn, hoben ihn auf und nieder. Er fühlte das Meer, der
Urgrund, aus dem alles einmal entstanden war, das Gefühl tiefer
Geborgenheit durchströmte seinen Körper, die Begegnung mit längst
vergessener Erfahrung des Einsseins, erfüllten ihn mit Ruhe und
Zuversicht. Raum und Zeit begannen miteinander verschmolzen. Er war eins
geworden mit der Energie des Ganzen. Die Sonne hatte sich dem Horizont
genähert, als ein weißer Vogel den Himmel überquerte. Als er erwachte,
lag er am Strand, die Sonne war gerade untergegangen. Aus dem Schoß der
ewigen Urmuter war er neu geboren. Es war an der Zeit, ihr anderes
Selbst zu finden, ihr zu opfern, in der Begegnung als Mann und Frau den
Kreislauf zu schließen. In seinen Lenden fühlte er pulsende Kraft. Seine
Männlichkeit glühte.Auf seiner Brust lag eine kleine weiße Feder. Er
machte sich auf den Weg, sie zu suchen. Die weiße Feder sollte ihr
Zeichen sein.
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