flying dolphins 

 

Bernd-Uwe Krause / Erzählungen / Moabiter Erinnerungen / Sommersonntag / Advent / Weihnachtbaumkauf / Die Halle / "Poste" - Kinderzeit / "Poste" - Jugendzeit / Mit Opa / Kinderspiele

 

 

Moabiter Erinnerungen

Moabit ist ein Ortsteil von Berlin im früheren Verwaltungsbezirk Tiergarten. Diese Moabiter Geschichten wurden erinnert aus einer Zeit, die ungefähr zwischen 1947 und 1970 liegt. Manche dieser Erinnerungen sind noch sehr deutlich vorhanden, als Bilder, Gerüche, Wortsequenzen und Gefühle. Manche dieser Erinnerungen sind aber auch vermischt mit Erzählungen, Mythen und sicher auch der einen oder anderen Unterstellung.

Der Ort, von dem diese Erinnerungen ausgehen, ist die Bochumer Strasse. Dort, am nördlichen Ende, fast schon an der Strasse Alt-Moabit, befand sich die Bäckerei meiner Eltern. Zunächst auf einfachen Glasschildern, später von hinten mit Glühbirnen beleuchtet, prangte das grosse Schild, in sorgfältig geschwungener Schreibschrift stand darauf: "Kuchen - Krause", in braunen Buchstaben auf auf cremfarbenem Hintergrund. "Kuchen- Krause", das war, zu mindestens für meine Mutter und meinen Vater tatsächlich ein Markenzeichen, beinahe ein Mythos. Nach außen repräsentierte mein Vater als Meister das Handwerk, die Bäckerei. Doch dann war da auch noch meine Mutter, die Cheffin, die Seele vom Geschäft. Sie war für die Atmosphäre des Ladens - aber auch für die Finanzen zuständig. Beide prägten auf ihre besondere Weise diesen Bäckerladen als eine Institution, als einen Teil meiner Moabiter Geschichten und Geschichte.

Diese Welt meiner Kindheit war geographisch ziemlich gut geordnet. Im Norden gab es im Bezirk Wedding einen grossen Park, das waren die Rehberge. Dazu gehörte gerade noch, am Rande des Parks, auch der Plötzensee, der bei uns Kindern als Ort sommerlichen Badevergnügens keinen guten Ruf hatte. 
Im Süden lag der (Großen) Tiergarten und der Zoo. "Zoo", das waren nicht nur der Zoologische Garten und der Bahnhof Zoo. Zoo, stand synonym für Gedächtniskirchen und Kurfürstendamm, also dem legendären KU-Damm. Hier befand sich die Mitte, das Zentrum von West-Berlin und dieses war von der Bochumer Strasse aus mit einem Spaziergang durch den Tiergarten durchaus zu Fuß zu erreichen. 

Im Osten gab es den Trümmerberg an der Rathenower Strasse und dahinter das Poststadion mit Sportplätzen, einem Hallenbad und einem Freibad. Dieses gesamte Areal hieß bei Jung und Alt einfach „Poste" und war mehr als ein Sportstadion, ein Trümmerberg oder ein Schwimmbad, „Poste" bedeutete Freizeit, Spaß und Entspannung, aber auch Sehnsucht, Lust und Abenteuer. Hier lagen die Orte der ersten großen Herausforderungen und Prüfungen, Heldentaten und Niederlagen meines Lebens: erste Schwimmversuche im Hallenbad, wilde Rodelabenteuer auf dem verschneiten Trümmerberg und aufregende Erlebnisse auf den Wiesen und in den Schwimmbecken des Freibades.

Weniger deutlich war die Grenze nach Westen. Hier gab es zwar das „Knie", ein markanter Platz der später in „Ernst Reuter Platz" umbenannt wurde. Doch dahinter taten sich sehnsuchtvolle Weiten auf, die mit Ausflügen oder Wochenendfamilienspaziergängen nur unzureichend zu füllen waren. Es gab allerdings ein paar markante Fixpunkte, die dieser Sehnsucht einen sehr realen Bezugsrahmen verliehen. Obwohl die Bedeutung dieser Orte in meiner Erinnerung durchaus wechselten, sind die Ufer der Havel, die Krumme Lanke und der Grunewaldsee und besonders das Strandbad Wannsee mit vielen sehr emotionalen Erinnerungen verknüpft.


Dass es darüber hinaus mit der Berliner Mauer einen Rahmen gab, an dem sich mein Leben auch orientierte, war in meiner unmittelbaren Wahrnehmung als Kind und später Jugendlicher wenig bedeutsam. Wenn eine "Reise mit der S-Bahn" zum Strandbad Wannsee schon für sich ein wunderbares Ereignis war, dann waren Ziele jenseits dieser Mauer sowieso außerhalb meiner kindlichen Vorstellungskraft. Außerdem gab es ja in Moabit, also fast unmittelbar vor der Haustür so viel zu erleben und zu entdecken - und davon soll auf den folgenden Seiten die Rede sein.

Die Reihenfolge derGeschichten folgt keiner Chronologie, sind "einfach so" erinnert.

 

 

 

 

Sommersonntag

Sonntagmittag im Sommer. Mein Vater hob die Glasschale, aus der er gerade die letzten Scheiben des Gurkensalats gefischt hatte an die Lippen und schlürfte bedächtig die süße Sahnesoße. Er stellte die Schale ab, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schaute meine Mutter an. „Was meinst Du, wollen wir noch ein paar frische Obsttörtchen machen?“
Es folgte eine längere Diskussion zwischen den beiden. Ich schaute unschlüssig in die Runde und überlegte: Sollte ich bei den Obsttörtchen noch mit helfen. Ein Schluck kühler Mandarinen– oder Ananassaft würde vielleicht abfallen. Hhmm, lecker, dachte ich. Aber dann entschied ich mich, doch lieber nach draußen zu verschwinden. Vielleicht traf ich ja jemand zum Spielen, drüben im Otto-Park könnten wir im Sandkasten eine Burg bauen. Das reizte mich mehr, als unter dem Kommando meines Vaters die Obsttörtchen zu belegen. Bevor dieser noch eine Ansage machen konnte, schnappte ich mir die Teller unseres gemeinsamen Mittagessens und murmele: „Ick jeh mal raus spielen“, brachte diese schnell in die Küche, stellte sie auf den Küchentisch und gleich darauf stand ich im Hauseingang von Bochumer Straße 27. So ein bisschen zwackte mich noch ein schlechtes Gewissen. Na ja, wir könnten das Geschirr ja auch noch am Abend abwaschen.

Draußen stand die Sonne hoch am Himmel, ich kniff die Augen zusammen. Die gegenüber liegende Straßenseite lag schon im Schatten, es war heiß und ganz still in der Straße. Ich blickte mich um, kein Mensch war zu sehen. Auf der Hauptstraße, Alt-Moabit, fuhr ab und zu ein Auto vorbei. Ich schaute nach links und nach rechts, hoffte irgendwo einen meiner Freunde zu entdecken. Langsam trödelte ich die Bochumer Straße ein Stück entlang und blieb schließlich unter der rot-weiß-gestreiften Markise vor dem Schaufenster unseres Bäckerladens stehen. Hier, im Schatten, war die Temperatur etwas erträglicher. Ich dachte an das Schwimmbad, träumte von dem großen blauen Becken und davon, dass ich ja bestimmt irgendwann alleine ins Poststadion gehen würde. Wenn ich erst mal grösser war. Es war dieses Alter, da wurde man nicht älter, sondern grösser.


Plötzlich wurde ich durch lautes Rufen aus meinen Träumen gerissen. „Ahuu, Ahuu!“ Das konnte nur Uwe sein, der manchmal so komische Töne von sich gab. Er kam gerade um die Ecke geschlendert, ich ging ihm entgegen. Mir war nicht so ganz wohl. Mit Uwe gab es oft Streit. „Ey, Bernte, kick ma wat ick habe!“ Ohne meine Antwort abzuwarten, hielt er mir seine geballte Faust entgegen. „Ick hab nenen echten Fufziger, geschenkt, von mein Onkel.“ Ich kannte das schon. Uwe lebte alleine mit seiner Mutter. Aber sie hatten oft Besuch von einem Onkel. So nach und nach begann ich zu begreifen, dass es nicht so ein Onkel war, wie mein Onkel Hans, sondern immer wieder ein neuer Onkel. Er öffnete seine Faust und darin blinkte tatsächlich eine 50 Pfennig Münze.

Ich bemühte mich ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. „Na und“ bemerkte ich möglichst beiläufig, „hab ick zu Hause och!“ Uwe ignorierte meine Bemerkung. „Ick jeh jetzt zu Militza, ne Eis holen, kommste mit?“ Bis zu Miliza, so hieß die Eiddiele in der Turmstraße, war es eine ganz schöne Strecke zu laufen. Einen Augenblick lang zögerte ich. Eine kleine Eiswaffel kostete einen Groschen, das waren 10 Pfennig, eine doppelte Waffel kostete 20 Pfennig. Uwe hatte 50 Pfennig, es gab eine winzige Chance, dass da für mich ein Eis abfallen könnte. „Na jut, ick komm mit“

Nachdem ich im Laden bei meiner Mutter Bescheid gesagt hat zogen wir mit der Ermahnung „Passt aber auf, wenn ihr über die Straße geht“! los. Wir überquerten die Strasse Alt-Moabit und dann führte uns unser Weg quer durch den Otto-Park zur Ottostraße und dann die Turmstraße entlang zum Eisladen. Schon aus der Ferne konnte ich die weiße Fahne mit der roten Schrift erkennen: E-I-S! das waren die drei magischen Sommerbuchstaben. Himbeer – Kirsch, meine Lieblingseiskombination, möglichst in einer großen Waffel, für 20 Pfennige, ein schöner Traum.


Vor dem Laden warteten viele Menschen in einer langen Schlange. „Ick hab aber keene Lust zu warten“, maulte ich, „is viel zu heiß.“ „Maan, nu warte doch mal, ick jeb dir ooch wat ab“. „Na jut, aber beeil dir, mach nich so lange“.  Ich drängelte mich also unter die Markise vor das Schaufenster, um nicht in der prallen Sonne zu stehen. Während Uwe schließlich im Laden das Eis kaufte, schaute ich durch die Scheibe der großen Maschine zu, die mit langsamen Drehbewegungen eine frische Eismasse rührte. Da jetzt mal den Finger in den Kessel stecken, dachte ich, Lieblingseiskombination hin oder her.
Uwe kam aus dem Laden zurück. In der einen Hand hielt er eine große Waffel in der anderen die 30 Pfennig Wechselgeld. „Hier halt mal, ick muß die drei Groschen einstecken.“ Er hielt mir die Waffel entgegen. Ein dicker Tropfen Vanilleeis kleckerte in meine Hand. „Mensch pass uff!“ schimpfte Uwe. „Pass doch selber uff“ maulte ich zurück. Hecktisch wollte Uwe das Geld in seine Hosentasche stopfen, da rutschten ihm eine 10 Pfennigmünze aus der Hand, rollte ein Stück über das Pflaster und verschwand auf Nimmerwiedersehen zwischen den rostigen Stäben eines Kellergitters.
Er heulte auf, es klang fast so wie der Klagelaut von unserem Kater Mukka, als der sich mal seine Pfote in einer Tür eingeklemmt hatte. Uwe warf sich auf den Boden, rüttelte an dem Kellergitter und starrte durch die Stäbe hinunter. Ich beugte mich über ihn. Der modrige Kellergeruch schlug mir entgegen. Inzwischen waren noch ein paar Eistropfen in meine Hand gekleckert. Verstohlen nahm ich die Eiswaffel in die andere Hand und leckte das geschmolzene Eis aus meiner Hand. Es war klebrig und süß und meine Zunge kitzelte auf meinem Handteller. In diesem Augenblick drehte sich Uwe um. Er kniete jetzt vor mir und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dabei schrie er: „Bist du bekloppt? Det is meen Eis!“ Er riss mir die Eiswaffel aus der Hand.
Ich trat vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Während er sich hektisch aufrichtete, drückte er voller Aufregung die beiden Waffelblätter zusammen und das Eis flutschte im hohen Bogen auf den Bürgersteig. Jetzt folgte ein Schrei, der mir Angst machte. Ich hatte diesen Schrei schon ein paar Mal von ihm gehört. So viel Verzweiflung , so viel Wut. Ich vergrößerte der Abstand und versuchte ihn zu beruhigen. „Du hast doch noch zwee Groschen. Koof dir doch einfach een Neues.“ Uwe kniete auf dem Pflaster und versuchte das inzwischen fast vollständig geschmolzene Eis in seine Hand zu schieben. „Du hast schuld, wejen mein Eis!“ schrie er mich an „ick will Schadenersatz. Ick zeige dir an. Ick je bei deine Mutter, du Blödmann!“ 
Selber Blödmann!“, blaffte ich zurück und vorsichtshalber auch noch: „Ick hab überhaupt nichts jemacht. Du hast det Eis runtergeschmissen!“. Ich drängelte mich an ein paar Passanten vorbei, die inzwischen stehen geblieben waren und rannte so schnell ich konnte nach Hause.

Hoffentlich hatte nicht wieder irgendeine dieser alten Petzen mich als den „Kleenen vom Bäcker Krause“ erkannt. Die waren immer gleich bei meiner Mutter und mussten sich wichtig tun und ihr sofort alles brühwarm erzählen. Sollte ich doch ein schlechtes Gewissen haben? Blöder Sonntag.

Am späten Nachmittag, gab es tatsächlich noch einen Spaziergang mit meinen Eltern die Turmstraße entlang. Als wir vor dem Eisladen standen schaute ich unauffällig auf den Boden. Der Fleck, den das geschmolzene Eis hinterlassen hatte, war noch deutlich zu erkennen. Uwe war glücklicherweise verschwunden. Mein Vater spendierte jedem von uns eine Eiswaffel. Himbeere war ausverkauft. Vanille - Kirsch schmeckte auch sehr lecker.

 

 

 

 

Advent

Im Kindergarten hatten wir es schon gelernt, Advent bedeutet: „Zeit der Ankunft". Und es war wirklich so, es kam jedes Jahr eine Menge auf uns Kinder zu, wenn die Tage kürzer wurden: Zuerst wurde am Morgen der Kampf um die kurzen Hosen verloren. Die Glücklichen unter uns durften richtige lange Hosen anziehen, die meisten aber bekamen die langen Strümpfe über den Stuhl gehängt. Im besten Fall rutschten diese, viel schlimmer waren aber die Wollstrümpfe.

„Hab dich doch nicht so, hat Oma extra für dich gestrickt!" Diese genervten, meist mütterlichen Kommentare, änderten nichts daran, es waren schwere, kratzende Ungeheuer, die kindliche Dankbarkeit über Oma’s Geschenk wurde auf eine harte Probe gestellt, nein, sie wurde meist in Tränen verpackt.
Dann kam die frühe Dunkelheit. Sie war immer schon da, wenn abends um sechs Uhr die Glocken der Heilandskirche im Herzen von Moabit läuteten. Bloß schnell nach Hause, sonst gab es Ärger.Dazu kam der Smog aus den unzähligen Kohleöfen der Moabiter Mietwohnungen und er hing tief in den Straßen. Der Smog, den wir Kinder zwar nicht beachteten, den unsere hustenden Lungen aber natürlich deutlich bemerkten.

Wenn es dann auch noch zu regnen begann, waren unsere dünnen Jacken ganz schnell durchnässt und nur ein unachtsamer Schritt und die Füße waren nass. Die Hoffnung, die wir mit uns herumtrugen, dass es vielleicht bald schneien würde, war eine Hoffnung, die in einer der höheren Wunschkategorien angesiedelt war. So etwa wie „Ich wünsche mir zu Weihnachten ein Fahrrad".


Einen solchen Wunsch gab es sicher in unseren Köpfen. Vielleicht haben wir darüber sogar miteinander geredet, doch es war genau wie mit dem Schnee: die Erfüllung dieses Wunsches wäre ein Geschenk. Ein Geschenk das außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten blieb. Die Erfüllung solcher Wünsche war nicht abhängig von dem sonst manchmal hilfreichen „Artigsein", das in der Vorweihnachtszeit immer besonders bedeutungsschwanger die kleinen und großen Auseinandersetzungen mit den Erwachsenen prägte.


All solche Widrigkeiten und Ungewissheiten wurden jedoch von dem einen vorweihnachtlichen Ereignis ganz leicht aufgewogen: Dem Weihnachtsmarkt in der Turmstraße.
Die Glühbirnen der Lichterketten, von Baum zu Baum gezogen, hüllten die Straße in ein gedämpftes, warmes Licht. Die Schaufenster der Geschäfte waren mit Tannenzweigen, Sternen, bunten Kugeln und manchmal auch mit einer Krippe geschmückt. Auf dem Platz vor dem Rathaus stand in majestätischer Größe ein Weihnachtsbaum. Solange ich mich erinnern kann, auch schon immer mit elektrischen Kerzen. Entlang der Turmstraße waren Buden und Marktstände aufgebaut. Manche waren einfach nur mir Kerzen erleuchtet, einige mit Petroleumlampen und dann gab es auch noch die besonders hellen Lampen, mit einem Glühstrumpf.

Ich war jedes Mal ganz aufgeregt, wenn ich beobachten konnte, wie eine dieser Lampen entzündet wurde. Zuerst begann der Glühstrumpf in einem magischen blauen Licht zu glimmen und dann, ganz plötzlich, strahlte ein gleißendes Weiß. Der Mann, der die Lampe in Augenhöhe vor sich hielt, wandte den Kopf geblendet zur Seite, während er gleichzeitig den Mund zu einem stolzen und befriedigendes Lächelns verzog. Sie brannte - und leuchtete.

An den Ständen wurden ganz unterschiedliche Waren angeboten. Da gab es verschiedene Stände mit Bekleidung, warmer Unterwäsche und dicken Socken. Die waren für uns nicht interessant.
Natürlich stand in der Budenreihe auch immer ein Würstchenverkäufer und den einen oder anderen Stand mit Süßigkeiten, gebrannte Mandeln und rote Zuckeräpfel. Der Duft kitzelte uns in der Nase, doch wir schlichen nur mit sehsuchtsvollen Blicken daran vorbei. Der eine Groschen, den wir vielleicht in der Tasche hatten, konnte uns hier keinen Wunsch erfüllen.

Besonders beliebt waren bei uns Kindern allerdings die Stände der Marktschreier. Es war für uns eine richtige Sensation, wenn eines Tages der kleine Lastwagen in der Tusneldaallee vor der Heilandskirche stand und Bananen – Paule mit krächzender und doch durchdringender Stimme begann, seine Bananen zu verkaufen.
Bananen gehörten in die Kategorie der „Schling nich so, die musste mit Jenuß essen" - Nahrungsmittel. Kostbarkeiten, kulinarische Delikatessen, die manchmal einzeln als Geschenk zum Nikolaus im Schuh oder auf dem weihnachtlichen bunten Teller zu entdecken waren.

Wir lauerten nur auf den Moment, dass Paule irgendwann mit lauten Schrei: „Hier, für Euch, ick ruinier mir. Wer will noch eene??!!" eine Banane in die Luft schmiss und dann sogar noch eine. Die Menge geriet in eine hektische Bewegung, streckte mit einem Aufschrei, wie aus einem Mund: "Hier, Icke!" die Arme empor, als würde sie Bananen – Paul zujubeln. Durch das Drängelnd und Schubsen landeten die meisten der gelben Objekte unserer Sehnsucht irgendwo in der Menge und dann wuselten wir Kinder solange zwischen der Füßen der Erwachsenen herum, bis irgendjemand von uns den Schatz geborgen hatte.

Eine weitere Attraktion war der Stand mit dem Verkäufer mit den Kugelschreibern und Füllfederhaltern. In einer Zeit, in der ich im ersten Schuljahr einen verzweifelten Kampf mit den Unwägbarkeiten der deutschen Sprache führte, immer in der nagenden Ungewissheit welcher Bogen eines Buchstabens auf welcher Linie beheimatet ist. In einer Zeit, in der die unvorhersehbaren Tücken von Federhaltern und Tintenfass mit heimtückischer Boshaftigkeit alle meine Bemühungen mit einem hässlichen schwarzen Klecks zunichte machen konnten.


Da gab es offenbar Schreibgeräte, die mit ihren fast magischen Eigenschaften, meine Phantasie aus kindlichen Ängsten in die Sphären schreibtechnischer Vollkommenheit aufsteigen ließ. Nun war es zwar in der Schule verboten mit einem Kugelschreiber zu schreiben, doch meine Bewunderung für dieses Meisterstück feinmechanischer Erfindungskunst war riesengroß. Es war ja nicht nur ein einfacher Kugelschreiber der dort in all seinen technischen Raffinessen vorgeführt wurde. Nein, mit diesem Wunderwerk war es möglich mit vier verschiedenen Farben zu schreiben, sogar mit Rot, was sonst allein der Lehrerin vorbehalten war.

Und dann dieser Füllfederhalter. Zuerst wurde ausführlich gezeigt, wie die Tinte aus dem Tintenfass in das Innere gelangte, ohne Klecks und Schmiererei. Dann nahm der Verkäufer das kostbare Stück, legte es in die geöffnete Hand, ballte diese zu einer Faust und stieß damit einmal kräftig auf das Holzbrett des Verkaufsstandes. Ein schmerzhaftes Stöhnen, vorwiegend aus dem Mund der Kinder ging durch die Zuschauerreihen. „Unverwüstlich, ich sage ihnen, jarantiert unverwüstlich. Det is Friedensware, sag ick ihen, wieder echte Qualität, wat se bei mia koofen können!"
 Er hielt den Füller empor, zeigt die wie ein Schwalbenschwanz aufgebogene Spitze der Schreibfeder mit einen weit ausholenden Geste einen Halbkreis beschreibend, der verblüfften Menge. Hier fand das tatsächliche Weihnachtswunder statt. Denn nun drehte er das geschundene Schreibgerät, drückte die Feder, indem er sie mit der Rückseite auf das Holzbrett presste wieder zusammen und – auf das weißen Papier des Schreibblocks zeichnete er mit elegantem Schwung eine makellose blaue Linie.

„Na bitte, hab ick gelogen", der Verkäufer blickte stolz und selbstgefällig in die Runde. „Und dieset ausjezeichnete Etui jibt et jratis dazu. In blau oder braum". „Und jetze mach mal n Mund zu, Kleener, sonst komm de Fliejen rin". Alle lachten, ich auch, meine Spannung löste sich. Für solche Schätze lohnte es sich Wünsche zu haben.

 

 

 

Weihnachtsbaumkauf

Es begann immer damit, dass auf dem Platz vor dem Rathaus der große Weihnachtsbaum aufgestellt wurde, dann kamen die Buden in der Turmstraße und für uns Kinder wurde es zu Gewissheit: Weihnachten steht vor der Tür. Einem ungeschriebenen Gesetz folgend begann dann das, was die einen Vorfreude, die anderen den Weihnachtstrubel oder neudeutsch, Stress nannten. Dazu trug in jedem Jahr auch der Kauf des Weihnachtsbaumes bei.  „Bring aber dieses Jahr nich wieder so’ne Strippe an ", war die erste Bemerkung meiner Oma und es war eigentlich keine Bemerkung, sondern eher eine Drohung. „Strippe" war ihre Bezeichnung für Weihnachtsbäume, die den Gesetzen der Symmetrie nicht so ganz gerecht wurden. Mein Vater verzog dann immer das Gesicht, als würden ihn Zahnschmerzen quälen und Opa brummte nur, „Jeht das jetzt schon wieder los"? Da wusste ich, es geht wieder los.

Zunächst begann alles ganz undramatisch. Mein Vater nahm mich an einem Nachmittag an die Hand, „komm wir gehen mal gucken." Bis Weihnachten waren dann noch mindestens zwei Wochen Zeit, aber gucken konnte man ja schon mal. Also zogen wir los, rüber zur Heilandkirche; um die Kirche herum und auf der anderen Straßenseite der Tusnelda Allee standen die Weihnachtsbaumhändler. „Wie heißt die kürzeste Allee Deutschlands", pflegte mein Vater jeden zu fragen der es wissen konnte oder hoffentlich nicht wusste. Denn sein Moabiter Lokalpatriotismus ließ ihn ohne auf eine Antwort zu warten immer ganz schnell verkünden:  „Natürlich die Tusnelda Allee, hier vor der Kirche!"

Die Tusnelda Allee verband auch zu jener Zeit schon die Turmstraße mit der Straße Alt-Moabit und sie war wirklich, auch damals für meine Kinderbeine, keine lange Straße. Wie so viele der Bemerkungen meines Vaters habe ich nie die Bedeutsamkeit verstanden, mit der er diese Frage immer wieder stellte, vielleicht lag es an dem Lokalpatriotismus, der mir als Kind besonders fremd war. Allerdings befand sich hier tatsächlich das Moabiter Zentrum der Weihnachtsbaumverkäufer und der richtige Ort um sich „mal nen Überblick zu verschaffen", wie mein Vater immer sagte.

Das bedeutete, das wir von Händler zu Händler schlenderten und mein Vater ab und zu stehen blieb und seinen prüfenden Blick auf die verschiedenen Bäume zu richten, die die Händler wie einen kleinen Wald aufgestellt hatten. In der Regel waren das Fichten, mit kurzen, pickenden Nadeln, vor denen ich mich ein bisschen fürchtete, doch ich genoss den feuchten, herben Geruch, der mich an das seltene Glück einer warmen Badewanne und Tante Edith’s Fichtennadelbad erinnerte. Ich pirschte, den Blich auf den Boden geheftet, um die Bäume herum, in der Hoffnung einen kleinen abgerissenen Tannenzweig zu finden, den ich dann schnell unter meine Jacke stecken konnte und dort wie einen Schatz verbarg.
Inzwischen hatte mein Vater den Verkäufer in ein Fachgespräch über Weihnachtsbäume verwickelt, das schließlich regelmäßig in dem bedeutungsvollen Satz gipfelte:„Aber 'ne Nordmanntanne hab’n se nich, wa?"  Woraufhin sich der Händler unter seiner grünen Joppe aufblähte, die Pelzmütze ein wenig auf den Hinterkopf schob, Weihnachtsbaumverkäufer hatten in meiner Erinnerung damals immer Pelzmützen auf dem Kopf, und selbstbewusst herausposaunte: „Aber Logo, der Herr, alles da." Dann drängte er sich zwischen den aufgestellten Bäumen hindurch in eine Ecke des Platzes und da standen sie dann, die echten Nordmanntannen.

„Na, richtige Schmuckstücke sind det, wa, jewachsen wie ne Eins, von denen mag ick ma ja nich trennen, hier, seh’n se mal, da sitzt jeder Ast an der richt’jen Stelle", der Stolz in der Stimme war unüberhörbar, „wat besseret finden se in janz Berlin nich. Hab ick von drüben, mein Schwager, vastehn se," und dabei senkte er seine Stimme etwas. Wenn jemand „von drüben" sagte, war das für mich das Zeichen wegzuhören oder zu mindestens so zu tun. „Von drüben", das war immer etwas geheimnisvolles, mit prickelndem Reiz und klebrigen Bonbons von Tante Grete verbunden. Auf der Tüte stand mit roten Buchstaben HO und die Tüte wurde immer gleich aufgerissen, die Bonbons ausgeschüttet und die Tüte weggeschmissen, meistens gleich in den Kohleneimer vor dem Ofen. Sonst wurde damals selten etwas weggeschmissen, aber mit Tüten, auf denen HO stand, war das Mitte der fünfziger Jahrein Berlin - Moabit etwas anderes.

Nordmanntannen „von drüben", das waren also offenbar ganz ganz ganz besondere Weihnachtsbäume, eine mögliche Steigerung könnte ich mir höchstens noch vorstellen, wenn ein echter Engel über einem solchen Baum schweben würde. Also stellte ich mich vor einen der Bäume und wenn ich die Augen ein bisschen zusammenkniff, verwandelte sich das gelbliche Licht der Gaslaterne tatsächlich in einen Engel und das war damals für mich natürlich ein echter Engel. Aber darüber würde ich mit meinem Vater lieber nicht reden. An den Weihnachtsmann glauben, ein Weihnachtsgedicht auswendig lernen und am Heiligen Abend aufsagen, jawohl das gehörte sich so, aber einen Engel im Weihnachtsbaum, dafür hätte mein Vater nie Verständnis gehabt. Mir war jedenfalls klar, dass wir uns so einen Baum sowieso nicht leisten könnten obwohl ich die Idee, mit einem Engel nach Haus zu kommen, irgendwie aufregend fand. Weil ich genau wusste, wie das Gespräch zwischen meinem Vater und dem Weihnachtsbaumverkäufer enden würde, wurde mir bald kalt und ich begann meinen Vater an der Hand zu ziehen.

„Ick lass mir dit noch mal durchn Kopf jehen, bloß bei den Preis könn wa nich ins Jeschäft kommen, so jetzt müssen wa aber los, der Kleene friert". Dann schlug er seinen Mantelkragen hoch und wir zogen einen oder zwei Stände weiter und die ganze Geschichte wiederholte sich. Davon wurde mir nicht wärmer. Doch nachdem ich mich zu Hause tapfer dagegen gewehrt hatte, die kratzenden Wollhandschuhe anzuziehen, waren die Chancen für eine etwas energischere Beschwerde nicht wirklich gut.

Irgendwann waren wir dann wieder zu Hause, ganz durchgefroren und beim Abendbrot begann mein Vater zu berichten. „Paar janz schöne Bäumchen dabei, aber Preise haben die, doch nich mit mir."

„Jeh aber nich wieder uf’n letzten Drücker los", war der Kommentar meiner Oma, „Wenn de wieder so’ne Krücke bringst wie letztes Jahr, denn is Weihnachten......".
Der Rest wurde verschluckt mit einem Stück Brot, aber wir alle wussten, das war die zweite Warnung. Ich bemühte mich, obwohl mir auch am Abendbrotstisch noch immer bitter kalt war, nicht mit den Zähnen zu klappern, weil das für meine Mutter ein sicheres Zeichen gewesen wäre mich zu einer heißen Tasse Milch zu „verdonnern". Und heiße Milch, das war so ziemlich das Schlimmste was passieren konnte, wegen der Pelle und überhaupt, heiße Milch..
Dann lieber ganz schnell ins Bett.

 

 

 

 

Die Markthalle

Direkt hinter dem Rathaus Tiergarten, nördlich der Turmstrasse, befindet sich auch heute noch der imposante rote Klinkerbau der Arminius Markthalle, für uns immer nur "die Halle". Solche Markthallen haben eine eigene Geschichte in Berlin, es gibt sie noch an anderen Orten der Stadt, doch haben sie inzwischen viel von ihrer ursprünglichen Atmosphäre verloren.
In den verschiedenen Verkaufsständen der Halle gab es alles zu kaufen, was eine Moabiter Familie zum täglichen Leben benötigte. Alle Arten von Nahrungsmitteln, Haushaltswaren, sogar Kleidung und für die Kinder natürlich auch ein Stand mit Spielzeug. Die Hausfrauen waren mit Taschen und Einkaufsnetzen unterwegs, meistens als Stammkundschaft auf dem Weg zu bestimmten Ständen und wurden dort persönlich mit Namen und manchmal Handschlag begrüßt. Es blieb aber immer auch noch Zeit, einen Blick auf die Angebote anderer Stände zu werfen oder hier und dort ein Schwätzchen zu halten.

Für uns Kinder war die Halle Abenteuerspielplatz, Wärmestube und  Endeckerland gleichzeitig. Vor allen Dingen in der kalten Jahreszeit, wenn die Spielmöglichkeiten im Otto-Park und im kleinen Tiergarten eingeschränkt waren, zog es uns oft zu einem Ausflug in die Halle.
Im Winter standen an jedem Ende  des breiten Mittelganges zwei riesengroße schwarzen eiserne Öfen, die eine wohlige Wärme verströmten. Um die Öfen herum standen in einer dichten Traube immer eine Gruppe alter Männer, gebeugt, manchmal auf einen Krückstock gestützt, eine Zigarette zwischen den schwieligen Fingern oder im Mundwinkel,  eingehüllt in  dunklen Joppen, die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen. Sie standen dort sicher nur um miteinander zu reden, vielleicht weil sie zu Hause Kohlen sparen wollten. Für uns waren sie auf eine wundersame Weise bedrohlich, als würden sie dort wie finstere Wächter stehen, mit unberechenbarer Entscheidungsmacht: du darfst rein - du bleibst draußen. So drückten wir uns immer schnell an ihnen vorbei, um im Labyrinth der Gänge zu verschwinden. Nirgendwo sonst gab es für uns so viele Reize und Anregungen, so nah anzuschauen, fast konnten wir sie anfassen, die Bananen, die Orangen und all die vielen Dinge, die unsere kindlichen Begehrlichkeiten wachsen ließen und doch zumeist unerreichbar waren. 
Links und rechts an dem Hauptgang reihten sich die Obst- und Gemüsestände, die Fleischer, Bäcker und Feinkoststände. Es gab frische Milch, die in die mitgebrachte Milchkanne abgefüllt wurde, Butter aus einem Fass und dicke Käsestücken. Butter wurde allerdings nicht so häufig gekauft.
Gleich am Hauptgang gab es auch die beiden Fischhändler. Wir knieten vor den dicken Glasscheiben der Fischbecken auf den kalten Steinboden und beobachteten die Tiere in dem trüben Wasser. Mit trägen Flossenschlägen bewegten sich die Karpfen langsam hin und her, die breiten Mäuler weit aufgerissen. An manchen Stellen hatten die Tiere ihre dunklen Schuppen verloren, so dass die weiße Haut durchschimmerte. In einer Ecke des Beckens lag zusammengeringelt ein Aal, oder waren es zwei? Der Anblick der Tiere faszinierte uns, doch gleichzeitig spürte ich auch immer eine Art von Mitleid. Richtig aufregend wurde es, wenn der Verkäufer mit einem Kescher einen der Fische aus dem Becken holte, den sich zuvor eine Kundin ausgesucht hatte. Ich ahnte was jetzt geschehen würde, wandte mich schnell ab und lief hinüber auf die andere Seite des Ganges, zu dem Spielwarenstand. 
Hier tauchten wir ein in unser Traumwunschland, Weihnachten stand ja vor der Tür und sonst hatte ja auch irgendjemand immer bald Geburtstag. Es war wunderbar, wir konnten uns alles wünschen was wir in den Auslagen entdecken und uns dabei gegenseitig mit unseren Träumen und Fantasien übertrumpfen. Irgendwann machte dieses Spiel keinen Spaß mehr und wir schlichen von dem hell erleuchteten Hauptgang durch die verzweigten engen und dunkleren Seitengänge. Hier waren die Stände manchmal nur noch mit  ein paar matten Glühbirnen erleuchtet. Der Geruch von feuchten Kartoffeln und Zwiebeln wechselte sich ab mit Bohnerwachs und Kernseife. In dickbauchigen Fässern entdeckten wir eingelegte Gurken und Sauerkraut. Knöpfe, Garnrollen, Bänder und Stoffballen konnten dagegen kaum unsere Aufmerksamkeit wecken. Hier gab es meistens nur wenige Kunden, die Händler saßen hinter ihren Waren und blinzelten misstrauisch zu uns herüber, wenn wir an ihrem Stand vorbeihuschten. 

Besonders aufregend war es für uns, wenn in dem Mittelgang ein Marktschreier besondere Waren anbot. Ich erinnere mich noch daran, wie einmal von einem Verkäufer mit großer Geste  ein Klebstoff angepriesen wurde, mit dem man Flicken auf ein Loch in einer Hose kleben konnte, ohne Nadel und Faden und ohne viel Mühe. "Det is doch wunderbar, meene Damen, det is doch wirlich keene Arbeit mehr. Schaun se her, ruck zuck fertich und nüscht mehr zu sehen. Hab' ick zuville versprochen?"!

Ich war so begeistert von diesem so geheimnisvoll (wahrscheinlich nach einem üblen Lösungsmittel) riechenden Wundermittel und beschloss mein Sparschwein zu schlachten, um meiner Mutter eine Tube zu schenken, sicher auch mit dem Hintergedanken, dass sie dann vielleicht nicht mehr schimpfen würde, wenn ich mal wieder ein Loch in meine Hose gerissen hatte.
Die Nachricht von dem Wunderkleber hatte sich dann allerdings auch bald herumgesprochen, der Bäckerladen war eine sehr effiziente Nachrichtenbörse, aber es hieß, das Zeug taugt nichts. "Hält einfach nich, jeht immer jleich wieder ab", war der allgemeine Kommentar. Warentest mit Mundpropaganda. Daraufhin nahm ich von meinem Plan Abstand, mein Sparschwein freute sich.

 

 

 

 

Sommerbad Poststadion - Kinderzeit - 

Als Kind war es für mich selbstverständlich, dass am Sonntag von 14:00 bis 16:00 Uhr der Laden offen war. Meine Mutter verkaufte Kuchen und mein Vater war dafür zuständig, für frisch geschlagene Schlagsahne zu sorgen. Das war an jedem Sonntag so, im Sommer wie im Winter. Falls aber mal an einem Samstagabend ein richtig heißer Sonntag angekündigt wurde, konnte ein großes Wunder geschehen. Meine Eltern beschlossen und verkündeten, wir gehen morgen ins "Poste", das heißt ins Freibad. War dieser Entschluss gefasst, so konnte man natürlich nicht einfach sagen: "Na dann bis morgen!" Nein für einen sonntäglichen Schwimmbadbesuch mussten eine Reihe von Vorkehrungen getroffen werden, denn um 14:00 musste der Laden ja für den Sonntagsverkauf geöffnet werden. 

Also begann zunächst mal eine eine lebhafte Diskussion zwischen meinem Vater und meiner Mutter: Sollen am Sonntag 20 oder gar 30 Obsttörtchen frisch auf der Theke stehen? Oder sogar noch schnell ein frischer Pfirsichkuchen gebacken werden? Oder Erdbeertörtchen? Nein besser keine Erdbeertörtchen, die frischen Erdbeeren waren nicht mehr so ganz frisch - da freute sich meine Vater über ein große Extraportion "Erdbeeren mit Milch", sein Lieblingssommergericht. Für mich blieben auch immer noch ein paar dieser leckeren süßen Früchte, lieber nur mit Zucker, auf die Milch konnte ich gerne verzichten.
Während ich meinem Vater in die Backstube folgte, um ihm bei der Vorbereitung für die Obsttörtchen zu helfen, verschwand meine Mutter in der Küche. "Ich brate mal schon noch die Koteletts, die nehmen wir dann morgen mit." Darauf erwiderte mein Vater vielleicht: "Hast Du nicht noch ein bisschen Salat, Gurken- oder Kartoffelsalat?" Mit den nun folgenden Aktivitäten war dann der Samstagabend ausgefüllt. Doch das alles störte mich überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich war voller Vorfreude auf alles, was der Sonntag noch für schöne Überraschungen bringen würde. Vielleicht spendierte mir mein Vater sogar ein Eis. Und auf jeden Fall würde ich versuchen, ganz schnell als Erster ins große, noch leere Schwimmbecken zu springen. Vermutlich bin ich dann an diesem Abend mit türkisblauen Fantasiebildern eingeschlafen.

Am Sonntagmorgen ging dann immer alles ganz schnell und schon waren wir auf der fast menschenleeren Turmstraße unterwegs zum Poststadion. Nach einem ca. 30minütigem Fußmarsch waren wir dann endlich am Ziel. Natürlich war die Schlange vor dem Kassenhäuschen auch dieses Mal wieder viel zu lang für meine Ungeduld. Also mussten wir erst einmal anstehen, ich hielt die Hand meiner Mutter und versuchte immer wieder einen Blick durch die Gitterstäbe des Eingangstores auf die Liegewiese zu werfen. 

Mein Vater stand etwas abseits im Schatten und rauchte eine Zigarette. Langsam, Schritt für Schritt, näherten wir uns dem kleinen Fenster der Kasse. Meine Mutter hatte aus ihrer roten Geldbörse das Eintrittsgeld herausgesucht und mit in die Hand gedrückt. Passend natürlich, dann ging es schneller, da war sie immer ganz die praktisch denkende Geschäftsfrau. "Gerhard, jetzt komm doch, wir sind dran". Murrend schob sich mein Vater an mir vorbei. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, schaute nach oben in den dunklen Fensterausschnitt und ließ das Eintrittsgeld auf den Zahlteller fallen. "Zwei Erwachsenen und ein Kind" stieß ich hervor. Die weißhaarige Frau im Kassenhäuschen lächelte mich an und schob zwei grüne und eine weiße Eintrittskarte zu mir. Vorsichtig nahm ich die drei Karten in die eine Hand während ich unter dem anderen Arm die zusammengerollte Decke hielt. Jetzt nur nichts fallen lassen. Ich drehte mich um, während meine Mutter mich mit sanftem Druck nach vorne schob. Dort stand der Kartenabreißer, den mein Vater inzwischen in eine Diskussion über die Wassertemperatur, das Wochenendwetter im besonderen und das Wetter dieses dieses Sommers im allgemeinen, verwickelt hatte. 
Dieser nahm mir jetzt die Karten aus der Hand, "Ritsch" er reichte mir die Karten zurück. "Jut uffheben,wa!" Ich nickte, aufgeregt drückte ich die Karten in meine Faust, wusste dann aber nicht wohin damit, schaute fragend meine Mutter an, die mir lächelnd die Karten abnahm und in ihre Geldbörse steckt. "Nu mal los, wollt ihr hier festwachsen", drängelte mein Vater, "sonst sind die besten Plätze weg". Auf den weiten Liegewiesen leuchteten ein paar bunte Farbtupfer, dort hatten sich schon andere Familien niedergelassen.


"Jib mal die Decke her!" forderte meine Vater mich auf. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich unter meinem Arm noch immer die zusammengerollte Decke trug, die jetzt unser Lagerplatz sein sollte. Sie wurde ausgerollt und ausgebreitet und dann wurden Schuhe, Kleidungsstücke und die mitgebrachte Tasche zu einem sorgfältig dekorierten Ensemble verteilt.

Inzwischen war ich auch schon aus meinen Sandalen geschlüpft, hatte Hose und T-Shirt abgestreift, die Badehose hatte ich schon zu Hause angezogen. Da stand ich, schaute erwartungsvoll auf meinen Vater, der sich gerade wieder eine Zigarette angezündet hatte, spürte das feuchte Gras unter meinen Füßen und die warme Vormittagssonne auf meinem Rücken.
"Na los, hau schon ab, du trampelst ja doch schon und hast keene Ruhe. Ick komm denn nach", das war mein Startsignal, ich rannte los. Vorbei am Nichtschwimmerbecken, direkt zum großen Becken, zum "Schwimmer". "Aber erst duschen", ermahnte mich die Stimme des Bademeisters und dann die nachdrückliche Frage: "Und, kannste schwimmen?" Er musterte mich abschätzend. "Na klar", meine Stimme war voller Stolz, "ich hab 'n Freischwimmer" und dabei zeigte ich auf den Aufnäher auf meiner Badehose. "Na denn ma los!"


Ich rannte zur Dusche, hüpfte unter dem kalten Strahl ein paar Mal hin und her und dann, schnell zum Becken. Schließlich stand ich auf dem Startblock. Vor mir das riesengroße Becken, am anderen Ende, 50 Meter entfernt, der Sprungturm. Mit dem 5er, ob ich es in diesem Sommer schaffen würde. Dann ging mein Blick zurück auf das Wasser. Das leuchtende Türkis zog mich in seinen Bann. Die Sonne funkelte in den kleinen Wellen. Ich hatte dieses riesengroße Becken fast ganz alleine für mich. Und dann kam der Sprung. Vielleicht war es einer der ersten gelungen Köpfsprünge, die wir immer "Köpper" nannten.
Das kalte Wasser strömte an mir vorbei, so frisch, so klar, ich öffnete meine Augen, von der Wasseroberfläche brachen sich die Sonnenstrahlen, zeichneten auf dem Beckenboden tanzende Wellenmuster. Ich tauchte weiter, wie in einem Rausch, alles war so hell, so klar und unberührt und ich fühlte mich mit diesem herrlichen Blau so sehr verbunden. Irgendwann spürte ich dann, wie die Luft knapp wurde, ich machte noch schnell ein, zwei kräftige Schwimmzüge, dann suchten meine Füße den Boden des Beckens und beide Arme über dem Kopf ausgestreckt, schoss ich nach oben und durchbrach prustend die Wasseroberfläche. Ich war ungefähr 25 Meter getaucht und befand mich jetzt fast in der Mitte des Beckens. In diesem Augenblick schien es mir, als hätte ich diesen wunderbaren Ort ganz für mich alleine. Ich ließ mich auf dem Rücken treiben und schloss, von der Sonne geblendet, meine Augen.


"Wat machste denn da? Soll ick hier anwachsen?" Es war die Stimme meines Vaters, die mich aus meinen Träumen riss. Jetzt bloß schnell zum Beckenrand zurück, ehe er es sich anders überlegt. Natürlich hatte ich unsere Verabredung vom Morgen nicht vergessen.

Vor den Augen des Bademeisters, gewissermaßen als offiziellem Zeugen, würde mein Vater 50 Pfennig ins Wasser werfen. 50 Pfennig, das war damals, Anfang der 50iger Jahre, ein Vermögen für mich. Meine Aufgabe würde es gleich sein, vom Startblock einen "Köpper" ins Wasser zu machen und die Münze vom Boden des Beckens hoch zu holen. Ich hatte das schon geübt, nach Steinen getaucht, so dass ich mir sicher war, dass ich das schaffen würde.
So stand ich schließlich auf dem Startblock und mein Vater warf mit mäßigem Schwung die silbern glänzende Münze ins Wasser. Inzwischen waren ein paar Kinder aufmerksam gewordne und standen um uns herum. "Da isser!" rief ein Junge und zeigte auf die Münze, die langsam im Blau versank. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte die Entfernung abzuschätzen. "Na los!" Das war die Stimme des Bademeisters und mein Startkommando. Ich sprang, im Wasser öffnete ich die Augen, gleichzeitig tasteten meine Finger über den Boden. Jetzt hatte ich keinen Blick mehr für die leuchtenden Muster auf dem Beckenboden. Über mir zappelten ein par Beine. Ich fühlte meine Aufregung. Die Luft wurde knapp. Da! Ich spürte die Münze unter meiner Hand, ballte die Finger zu einer Faust und stieß mich vom Boden ab. wieder durchbrach ich prustend die Wasseroberfläche.
Stolz reckte ich meine rechte Faust empor. "Ich hab ihn!" rief ich schnaufen und ein paar Leute klatschen anerkennend. "Kann ick ooch" war der Kommentar eines Jungen und dann sprang er platschend ins Wasser. Ich kletterte aus dem Wasser, lief stolz zu meinem Vater und zeigte ihm den Fünfziger. Neben ihm stand immer noch der Bademeister, den dicken Bauch in ein weißes Achselhemd verpackt. "Is meener" sagte mein Vater zum Bademeister und legte mir stolz eine Hand auf die Schulter, "haste jut jemacht!" 
Ich strahlte und wusste jetzt, ich konnte etwas, was mein Vater nicht konnte.

 

 

 

 

Sommerbad Poststadion - Jugendzeit -

Durch ein Wolkenloch quälten sich ein paar Sonnenstrahlen. Amigo, der Bademeister, nur ein paar Jahre älter als wir, hatte uns gerade den Ball abgenommen. „Könnt ihr euch heute Abend wieder abholen, wißt ihr doch, Fußball is nich!“ Ohne sich zu uns umzuschauen ging er rüber zu den Schwimmbecken, den Ball unter den muskelbepackten rechten 0berarm geklemmt. „Misst, is doch heute überhaupt nüschts los, sind doch ja keene Leute da!“ brummte einer von uns, nicht sehr laut, denn mit Amigo, er war ein moabitbekannter Amateurboxer, legte sich niemand an. Wir schauten uns ratlos an. „Hat eener Karten dabei“?
Der Lange, er hieß auch Bernd und war mein bester Freund, schaute fragend in die Runde. „Icke“ einer aus der Gruppe kramte aus seiner Tasche ein Skatblatt. „Nö, dein Kreuz-Bube is ja gezinkt“. Der andere stecke verschämt sein Spiel wieder in die Hosentasche. Wir können ja ins Wasser gehen, schlug ich vor. „Die machen gerade den Fünfer auf!“ rief da einer aus der  Gruppe.

Wir rannten los, quer über die Wiese, zum großen Becken mit dem Sprungturm. Sprangen mit ein paar Sätzen über die eine oder andere Decke und hatten schließlich den Beckenrand erreicht. An der Treppe, die hinauf zur 5 - Meter - Plattform führte, hatte sich schnell eine Schlange gebildet. Zitternd standen wir in der Reihe, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände auf unseren Schultern.
Wat springst’n du?“ Ich gab dem Langen, der vor mir in der Reihe, stand einen leichten Stoß. „Kater?“ „Weeß nooch nich, vielleicht?“ Na klar, der Lange war mein bester Kumpel, wir kannten uns noch aus der Schule. Vor einem Jahr hatte ich das Gymnasium nach der 10. Klasse verlassen, um im Betrieb meines Vater‘s mit der Konditorlehre zu beginnen. Trotzdem war der Kontakt zwischen uns nicht abgebrochen. Allerdings wurmte es mich doch ein bisschen, dass er sich immer neue Sprünge ausdachte und sogar schon mal einen Salto gesprungen war. Aber irgendwie war das natürlich auch ein Ansporn für mich. Auch in diesem Sommer hatten wir wieder viele Möglichkeiten zum Üben.
Wir standen inzwischen auf der Leiter, die hinauf auf den Sprungturm führte. Von oben tropfte das Wasser auf den Betonboden. Ich blickte in die Runde. Auf den Treppen der Terrasse am rechten Beckenrand saßen heute nur wenige Leute, die uns beim Springen zuschauen würden. Das Wetter war einfach zu ungemütlich. Da kamen nur die wirklichen Schwimmer ins Poste.
Doch plötzlich hielt ich den Atem an. „Ey, haste jesehen?“ Ich boxte dem Langen gegen das Bein, das vor mir auf der Leiter stand. „Wat denn?“ Er beugte sich zu mir herunter, „wat is denn?“ „Da!“ ich zeigte rüber auf die Stufen der Terrasse, „die sind wieder da!“ Ich fühlte mein Herz klopfen. Diese beiden Mädchen hatten wir schon häufig hier im Schwimmbad gesehen. Und dass sie bei diesem Wetter hier waren. Das konnte nur bedeuten…… ? Ob sie gekommen waren, um us zu treffen. Immerhin wußten wir schon, dass sie im nahen Moabiter Krankenhaus eine Ausbildung machten, Physio......, also irgend so eine Art von Therapie, oder hieß das Krankengymnastik? Jedenfalls klang es irgendwie beeindruckend und es kam jetzt darauf an zu zeigen, dass wir sie bemerkt hatten. Aber natürlich nicht zudeutlich.
Los, mach!“, raunte ich dem Langen zu, „die gucken hier her. Ick gloobe, die haben uns jesehen!“ Gleich darauf standen wir beide oben auf der Fünf - Meter - Plattform des Sprungturms. Eine Windböe strich über uns hinweg und ich spürte die Gänsehaut auf meinem Körper. Dann zupfte ich ein paar Mal an meiner Badehose und schaute dabei unauffällig nach unter. „Komm“ sagte der Lange „wir springen Köpper, gichzeitig.“ „Mit Anlauf oder von der Kante?“ fragte ich. „Mit Anlauf!“ Ich schluckte. Es kam dabei darauf an, den Anlauf so zu synchronisieren, dass wir im richtigen Moment gleichzeitig die Kante der Plattform erreichten, um gemeinsam abzuspringen.
In diesem Augenblick brüllte jemand aus der Clique:„ Ey, kiek mal, die beeden Langen! Die machen bestimmt nen Bauchklatscher“ Ein paar von den Jungs lachten. Den Spaß würden wir ihnen natürlich nicht machen. Wir sprinteten beide los, ein Blick aus den Augenwinkeln nach links. Misst, der Lange war einfach schneller als ich, er sprang und flog mit weit nach vorne gestreckten, ausgebreiteten Armen durch die Luft. Mir blieb keine Zeit mehr zum Überlegen, dann segelte ich ihm schon hinterher.
Jetzt bloß nicht die Beine einkicken, schoß es mir noch durch den Kopf und ich streckte mich. Dann war ich uch schon ins ins Wasser eingetaucht. Für einen Augenblick genoss ich die Stille hier unten und blickte mich um. Erst jetzt merkte ich, wie dunkel es hier unten war, an so einem trüben Tag, ohne Sonnenstrahlen. Irgenwo über uns zappelten ein paar Beine. Als ich atemlos an der Oberfläche auftauchte, war der Lange schon neben mir.

War doch jut“ prustete ich. Er nickte. Wir kraulten zur Leiter, als ich über den Beckenrand blicken konnte, verzog ich enttäuscht mein Gesicht. Die beiden Mädchen waren verschwunden. „Die sind ja schon abjehauen.“ „Seh ick oooch“, der Lange zuckte mit den Schultern, tat so als wäre es ihm egal. „Regnet ja ooch schon die janze Zeit.“ Ob sie unseren Sprung noch gesehen haben? Wir rannten zurück zu unserer Decke.

 

 

 

 

Mit Opa

Es muss so die Zeit gewesen sein, als ich noch nicht zur Schule ging. Unten in dem Zimmer neben dem Bäckerladen schliefen noch Mami und Vati, Sonntagmorgen. Ich wusste schon damals, dass meine Eltern an allen Wochentagen immer sehr früh aufstehen mussten und darum war der Sonntagmorgen die Zeit für sie zum ausschlafen. Da wurde der Bäckerladen nämlich erst am Nachmittag geöffnet. Und wenn von der Kundschaft jemand fragte, haben Sie am Sonntag auf? Antwortete meine Mutter immer: „Ja, von 2 bis 4!“. Und sie sagte das immer noch mit viel Freundlichkeit in der Stimme.

Ich saß also mit meinen Großeltern am Frühstückstisch. In der Ecke der mächtige Kachelofen, der bis hinauf an die Zimmerdecke ragte, links und rechts von dem Ofen ein Sessel in dem die Oma und der Opa saßen. Der Sessel der Oma war ein riesiges graues Ungetüm und später ,als sie nach einem Schlaganfall sehr krank war, wurde sie darin immer kleiner.
Heute kann ich mich nicht mehr so genau daran erinnern, was wir damals zum Frühstück gegessen haben. Ich glaube es waren Brötchen, genauer gesagt „Knüppel“, so hießen diese gerollten Brötchen, die mit Milch hergestellt wurden und daher auch noch am Tag nach dem Backen noch nicht so zäh waren, wie Schrippen. Es gab sicher auch Marmelade, die hatten wir in der Bäckerei immer in großen Eimern, aus denen
auch für den Hausgebrauch etwas abgefüllt wurde. Aprikosenmarmelade, Himmbeer – Johanissbeer -, Kirsch- und Erdbeermarmelade war das übliche Sortiment. Damit wurden Tortenböden zusammen gesetzt, Plunder- und Blätterteigstücke gefüllt und natürlich auch die Pfannkuchen, von Ortsfremden auch "Berliner" genannt.
Vielleicht gab es damals sogar auch schon mal Butter zum Frühstück, aber sicher bin ich mir da nicht. Was ich damals zum Frühstück getrunken habe weiß ich heute auch nicht mehr, vielleicht warme Milch, zu dieser Zeit auch noch eine Kostbarkeit, aber ich bin mir ganz sicher, dass ich sie dann nicht mochte. Warme Milch hat in meiner Erinnerung immer eine „Pelle“ und das war einfach eklig. Später, als ich älter war, bekam ich dann immer den letzten Aufguss aus dem Kaffeefilter. Da fühlte ich mich richtig erwachsen, denn das war ja Bohnenkaffe und das war erst recht eine richtige Kostbarkeit.

Als die Oma noch nicht krank war, bin ich mit dem Opa nach dem Frühstück oft spazieren gegangen. Er hatte immer einen Spazierstock dabei, seine Haare waren schneeweiß, doch am eindrucksvollsten war sein weißer Schnurrbart, die Spitzen waren nach oben gebogen und gaben seinem gutmütigen, meist freundlich lächelnden Gesicht eine herzliche Autorität. Ich durfte manchmal auf seinem Schoß sitzen und dann an den Schnurrbart – Spitzen zupfen. Dann brummte er und lachte dabei. Dieser Bart hatte für den Opa aber auch einen sehr wichtigen historischen Bezug, Kaiser Wilhelm und der „Olle Hindenburch“ waren
offensichtlich Vorbilder für ihn, deren Bedeutungen sich mir damals natürlich nicht erschloss.
Wenn wir dann unterwegs waren,
trug meistens einen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, manchmal auch einen schwarzen Hut und ich freute mich immer, wenn die Leute auf der Straße ihn begrüßten. „Mein Opa!“, ich war richtig stolz auf ihn. Unser Weg führte uns entweder die Bochumer Straße hinunter an die Spree. Hier war die Chance groß, einen Schleppzug zu sehen, der von einem Schlepper mit schwarz qualmendem Schornstein gezogen wurde.
Noch stärker zog es mich jedoch in die Wiebestaße, dort befand sich nämlich ein Straßenbahndepot. Also wanderten wir entweder die Turmstraße oder die Straße Alt-Moabit nach Westen. Am Ende der Turmstraße, in der Huttenstraße, begannen dann auch ein Industriegebiet, mächtige Hallen in denen Turbinen und andere große Maschinen gefertigt wurden.

Doch ich war erst so richtig froh, wenn wir vor dem Straßenbahndepot in der Wiebestraße standen. Ich erinnere mich noch an ein lang gestrecktes Gebäude, mit vielen schwarzen Toröffnungen, die wie riesige Mäuler zur Straße hin aufgerissen waren. Und dann kam endlich eine Straßenbahn, bog quietschend von der Straße auf das Grundstück und verschwand in einer der schwarzen Öffnungen.
Meine Aufregung war kaum noch zu steigern, wenn plötzlich aus einem anderen Tor eine andere Straßenbahn auftauchte, ebenfalls quietschend auf die Straße hinaus rumpelte, um die Straßenecke bog und verschwand. Damals lernte ich wahrscheinlich die ersten Zahlen, denn die einzelnen Straßenbahnlinien hatten Nummern und bald lernte ich sogar einzelne Linien nach der Form ihrer Wagen zu unterscheiden.
So erinnere ich mich an mindestens zwei oder drei unterschiedliche Wagentypen, die den einzelnen Linien zugeordnet waren.
Da gab es die „44“, die fuhr die Straße Alt-Moabit entlang. Dann die „3“, die fuhr über die Beuselstrasse zum Wedding und dann noch die „2“ und die „25“ in der Turmstraße, die beide zum Bahnhof Zoo fuhren. Da war ich dann allerdings schon älter.

Das größte Geschenk war es, wenn der Opa sich bereit erklärte, mit der Straßenbahn zurück nach Hause
bis zum Rathaus Tiergarten zu fahren. Das Glück war dann vollkommen, wenn der Opa den Schaffner fragte, „Hamse für den Kleenen nich nen Block?“ Damit war der Rest eines verbrauchten Fahrscheinblocks gemeint. Und wenn dann so ein Block da war, dann jubelte ich, da konnte ich den ganzen Nachmittag zu Hause aus einer Stuhlreihe eine Straßenbahn bauen und Schaffner spielen.

Eine große Leidenschaft meines Opas war der Balkon. Direkt unter dem Balkon, die gesamte Breite ausfüllend, befand sich die cremgelbe Reklameschild der Bäckerei mit der Aufschrift „Kuchen-Krause“, in fein geschwungener, schokoladenbrauner Schrift.
Das war dann gewissermaßen das Programm, der Senior bemüht sich um seine Geranien, kommuniziert aber mit der halben Bochumer Straße, der Kundschaft. In der warmen Jahreszeit verbrachten wir immer viele Stunden auf dem Balkon, so dass sich für meinen Opa viele Möglichkeiten ergaben sich (und) der Welt zu zeigen: Da bin ich! Und ich durfte mich zu ihm gesellen, die Gießkanne mit Wasser füllen, die welken Blätter und Blüten in den Mülleimer werfen und ganz nah bei ihm sein.

 

 

 

Kinderspiele

„Das ist doch ein Kinderspiel!“, mit diesem Satz kommentierten Erwachsene damals häufig Aktivitäten, die ihrer Meinung nach keine großen Fähigkeiten erforderten. Ergänzt oft mit den Bemerkungen: “Das kann doch jeder!“ „Stell dich doch nicht so an!“ oder „Das ist doch ganz einfach!“

So einfach waren sie allerdings nie, diese Kinderspiele. Sie waren manchmal richtig anstrengend, manchmal aufregend und geheimnisvoll, manchmal brachten sie uns an den Rand der Verzweiflung und manchmal beschenkten sie uns allerdings auch mit Stolz, Glück und Zufriedenheit. Auf jeden Fall zeigten sie uns, wer gerade unser Freund war, mit wem ich gerne in einer Mannschaft sein möchte und natürlich auch, wer würde mich denn zum Mitspieler auswählen?

Damals, die Kuchenreste hatte bei dem kleinen Bernd für einiges Übergewicht gesorgt, konnte ich nicht schnell rennen. Wenn auf der abgetretenen Wiese in der Mitte des Otto – Parks Fußball gespielt wurde, gab es nur einen Platz für mich, Torwart. Zwischen zwei Jacken, die das Tor markierten stand ich dann und hoffte, der Ball fliegt vorbei, fliegt über da Tor oder, ich „halte“ ihn. Lasse mich dafür sogar auf den staubigen Boden fallen. Dann war ich der Held. Wenn ich Glück hatte kam ein Mitspieler angerannt und klopfte mir auf die Schulter.

Ein anderes Spielfeld war die Straße. Die „Bochumer“ hatte damals noch keine Parkstreifen, die Fahrbahn war breiter und auch die Bürgersteige. Ein beliebtes Spiel war „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?“ Auf der einen Straßenseite stand der Fischer, auf der anderen die Gruppe der Kinder, die über das Wasser, die Straße, auf die andere Seite wollten. „100 Meter!“ konnte die Antwort des Fischers sein. Dann fragte der Chor von der gegenüberliegenden Straßenseite: „Wie kommen wir rüber?“ Jetzt musste der Fischer ein Merkmal nennen, eine Farbe oder eine Fortbewegungsart, z.B. „auf einem Bein hüpfen“ oder „Hellgrün“. Wer dieses Merkmal beherrschte bzw. vorweisen konnte, wanderte gemächlich auf die gegenüberliegende Straßenseite, die anderen mussten rennen – und der „Fischer“ konnte sie abschlagen, so wurden sie auch „Fischer“, nun mit der Aufgabe, die anderen zu erwischen. Wer zuletzt übrig blieb, war der oder die neue Fischer / in. Mädchen waren oft ziemlich schnell und geschickt.
Andere Spiele, die nach dem gleichen Muster abliefen waren z.B. „Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann?“ oder „Eins, zwei, drei saurer Hering!“


In größeren Gruppen
hieß es dann auch manchmal: „Wollen wir Einkriege spielen?“, gemeint war „Fangen“, „Oder lieber Verstecken?“. Allerdings dauerten diese Spiele meistens nicht sehr lange, weil es immer wieder große Uneinigkeit über die Auslegung der Regeln gab. War es z.B. erlaubt sich in einem Treppenhaus in der 4. Etage zu verstecken? Oder wonach wurde entschieden, ob die einmal „Gefangenen“ wieder befreit werden dürfen? Ebenfalls war es immer wieder umstritten, ob wir Ruine im Hinterhaus von Nummer 3 als Spielort mit einbeziehen dürfen. Hier lockte regelmäßig der Reiz des Verbotenen gegenüber der ganz realen Gefahr, die in solchen Abrisshäusern drohte. Solche Auseinandersetzungen führten dann häufig dazu, dass sich die Kindergruppe vorübergehend aufspaltete und dass dann für ein paar Tage nicht miteinander gesprochen wurde.

Einfacher war die Einigung über die Regeln, wenn nur wenige Kinder am Spiel beteiligt waren. „Hopse“ von manchen auch „Himmel und Hölle“ genannt war ebenfalls ein immer wieder beliebtes Spiel. Die großen, rechteckigen hintereinander liegenden Granitplatten des Bürgersteigs bildeten hier das Spielfeld. Mit Kreide, die wir uns von einem der vielen Trümmergrundstücke besorgten wurden dann die Platten markiert. Die erste mit einer „1“, die zweite Platte wurde in der Mitte geteilt, das waren dann die Felder „2“ und „3“ bis zum Schluss die „10“. Jetzt brauchten wir noch zum werfen ein paar ineinander gesteckte Büroklammern oder Sicherheitsnadeln und dann konnte das Spiel beginnen. Hier waren Geschicklichkeit und ein bisschen Glück gefragt, leider war beides nicht so sehr auf meiner Seite. Auch hier waren es in meiner Erinnerung häufig Mädchen, die als erste das Spiel beendeten.

Beliebt war auch das Spiel, bei dem ein Spieler einen Ball gegen eine Hauswand warf und dann auf verschiedene Weise ( z.B. 3 mal in die Hände klatschen, sich um sich selbst drehen, mit der Faust zurückspielen) diesen anschließend wieder auffangen musste. Auch hier kam es drauf an, wer die meisten Aufgaben hintereinander fehlerfrei spielen konnte. Ich war von diesem Spiel eigentlich meistens ausgeschlossen. Denn hinter der Hauswand mit der größten Fläche, neben dem Hauseingang von Nr. 27, befand sich die Schlafcouch meines Vaters, auf der er so ab 14:00 seinen Mittagsschlaf hielt. Da war für mich klar, das gibt irgendwann Ärger, wenn da dauernd der Ball gegen die Wand prallte.

Mit zwei oder drei Kindern ließ sich wunderbar „Zigaretten – Poker“ spielen. Dazu sammelten wir zunächst leere Zigarettenschachteln. Die Vorder– und Rückseite der Packung wurde abgeschnitten, so dass jeweils zwei „Karten“ übrig blieben, die eine bestimmte Zigarettenmarke repräsentierten. Da in dieser Zeit viel geraucht wurde war es nicht so schwer, sowohl zu Hause als auch irgendwo auf der Straße leere Packungen zu finden, so dass wir bald einen Packen dieser „Karten“ gesammelt hatten. Die Spieler setzten sich dann einfach irgendwo in einen Hauseingang oder auf die Bordsteinkante und dann ging es los.

Jeder hielt den Stapel Karten mit der unbedruckten Seite nach oben in der Hand, eine Karte wurde gezogen, umgedreht, der nächste Spieler drehte seine nächste Karte um. Jetzt lagen abwechselnd unterschiedliche Zigarettenmarken ober auf dem Stapel, so lange, bis zwei Zigarettenmarken übereinstimmten, der Spieler, der die letzte Karte gelegt hatte, war der Gewinner, der ganz ganze Stapel gehörte jetzt ihm. Obwohl die Regeln sehr einfach und überschaubar waren, gab es hin und wieder auch Auseinandersetzungen, wenn z.B. einzelne Karten des Mitspielers eingerissen, geknickt oder einfach sehr schmutzig waren. „Die haste wohl aus‘m Gully gezogen, wie die aussieht. Mit sowat spiel ick nich!“ Damit war das Spiel dann beendet und einer zog beleidigt davon.


Ebenfalls beliebt als Spielzeug
waren Murmeln und Bucker (durchsichtige Glaskugeln). Gegenüber den Murmeln aus Ton waren die bunten Bucker natürlich viel wertvoller und wurden meistens wie ein Schatz gehütet. Beim Murmelspiel wurde mit dem Absatz vom Schuh eine Kuhle in den Sand gedreht. Dann wurde mit einer Linie ein Abstand festgelegt und nun mussten die Spieler ihre Murmel in der Kuhle zu versenken, wem das als Letzten gelang, der war der Gewinner und konnte alle Murmeln in der Kuhle einkassierten.

Bei einer ganz anderen Variante dieses Spiels wurde in einen Schuhkarton mit einem Messer kleine, unterschiedlich breite Türchen geschnitten. Über jedem stand eine Zahl. Na klar, es galt das Gesetz, je schmaler das Türchen, desto höher die Zahl. Wieder wurde eine Abstandslinie gezogen und dann versuchten die einzelnen Spieler eine Murmel durch ein bestimmtes Türchen zu rollen.. Gelang das, musste der Besitzer des Schuhkartons die entsprechende Anzahl Murmeln auszahlen. Blieb die Murmel vor dem Schuhkarton liegen oder rollte daran vorbei, konnte der Besitzer sie einkassieren. Natürlich gab es auch hier immer wieder Anlässe für unterschiedliche Einschätzungen und Meinungen. War die Murmel schon im Schuhkartons verschwunden, oder lag sie gerade noch auf einer imaginären Linie? Und die Murmel, die gerade geworfen wurde, da war doch die Farbe abgeplatzt!

Es ist natürlich kein Zufall, dass die meisten Spiele, an die ich mich erinnere draußen gespielt wurden. Von all den Kindern, an die ich mich erinnere, gab es nur einen Jungen, bei dem es die Möglichkeit gab in der Wohnung zu spielen. Das war Tommy, bei ihm gab es dann sogar of noch einen Kakao oder einen Keks. Die große, hagere Gestalt seiner Mutter flatterte immer um uns herum, um zu sehen, ob auch alles gut ist. Tommy war dann auch der Einzige von uns, der eines Tages einen Hund hatte. „Wie heißt denn der?“ „Erle vom Stausee!“ Das Tier wurde mit einem anderen Namen gerufen. Doch den habe ich vergessen.

Irgendwann im Laufe dieser Spielzeiten merkte ich immer mehr, dass die Kinder, mit denen ich da spielte, doch sehr unterschiedliche Spielkameraden waren. Es dauerte aber doch noch so einige Zeit, bis ich es mir leisten konnte, auszuwählen, mit wem ich spielen wollte.

 

 

 

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